Der Autor Arno Geiger schreibt über die Alzheimer-Erkrankung seines Vaters – und findet in all dem Schrecken eine poetische Schönheit.


„Hast du Angst vor dem Sterben?“ – „

Obwohl es eine Schande ist, es nicht zu wissen, kann ich es dir nicht sagen.“

August Geiger wurde am 4. Juli 1926 der Vorarlberger Gemeinde Wolfurt geboren, als drittes von zehn Kindern. Die Eltern besaßen „drei Kühe, einen Obstgarten, einen Acker, eine Streuwiese, ein Stück Wald, ein Schnapsbrennrecht für dreihundert Liter und ein Bienenhaus.“ Im Februar 1944 wurde August Geiger eingezogen, kam zur Wehrmacht und an die Ostfront, geriet 1945 in Gefangenschaft, erkrankte, starb fast in einem Lazarett in Bratislava.

„Der Vater kam in der zweiten Septemberwoche heim, als das Licht schon wieder gelblich wurde und das dritte Heu eingebracht werden musste.“ Er kam heim und ging nie wieder; selbst zum Urlaub konnten Ehefrau und Kinder ihn nie überreden: „Für den Vater musste die Welt nur deshalb so groß und schön sein, damit nicht alle in Wolfurt herumrannten.“

Der österreichische Schriftsteller Arno Geiger hat die Lebensgeschichte seines Vaters festgehalten, weil er selbst sie ja verlor: „Es ist, als würde ich dem Vater in Zeitlupe beim Verbluten zusehen.“ Die Alzheimerkrankheit raubt ihm sogar die geliebte Heimat – „weil er vergessen hatte, dass er zu Hause war.“

Sie, die Leser, wissen nun schon mehr über August Geigers Biografie als er selbst.

Was bleibt von einem Menschen, wenn er seine Erinnerung verliert? Was bedeutet es für die Kinder, den Partner, wenn noch vor dem geliebten Menschen die Liebe verlöscht – weil sie vergessen wird?

Die Magie der Wörter

Über die Demenzerkrankung naher Menschen schrieben zuletzt etwa John Bayley, Ehemann der Philosophin Iris Murdoch, oder Tilman Jens, Sohn des Schriftstellers Walter Jens. Andere wählten die weniger angreifbare Form der Fiktionalisierung (s. Infobox), um dem Verfall eines Menschenlebens, dem Alltag des Alterns nachzuspüren. Ob nun ein Erdbeerfeld unbestellt bleibt wie in Katharina Hackers Roman oder ein Mann den Weg nach Hause auf Zetteln skizzieren muss wie bei Martin Suter – stets galt der Fokus dabei dem Verlust.

Arno Geiger aber nimmt nun auch den Gewinn in den Blick. Er stellt fest, dass ja der Kern der Persönlichkeit – Witz, Charme, Würde – gesund bleibt. Er notiert die verschrobenen Sätze des Vaters, bestaunt das „magische Potential der Wörter“. „Ich bin nicht gut besattelt“, sagt der Vater etwa nach einem Spaziergang: „Meine Schuhe haben nicht die richtige Übersetzung.“ Zu Weihnachten bietet er den Nachrichtensprechern im Fernsehen Plätzchen an. Und lehrt seine Kinder, dass gemeinsames Singen gegen „Heimweh“ hilft – weil der Vater sich in Volksliedern zu Hause fühlt.

Die Kinder lassen sich ein auf seine Wahnwelten, füllen unbemerkt Erinnerungslücken. Denn schließlich, so Arno Geiger, sei die Kluft zwischen den erinnernden und den vergessenden Menschen nicht so groß: „Auch für einen einigermaßen Gesunden ist die Ordnung im Kopf nur eine Fiktion des Verstandes.“ Arno Geiger ringt, ohne bloßzustellen, einer persönlich gefärbten Tragik Erkenntnisse über das Leben selbst ab. Sein Buch ist ein Geschenk. Danke dafür.