Kulturhauptstadt. .


Viele der 78 Teilnehmer des Kunstprojekts „2-3 Straßen“ sind vom Projekt enttäuscht und frustriert. „2-3 Straßen“ galt als eines der wichtigsten Kulturhauptstadtprojekte: 78 Menschen wohnten mietfrei in Dortmund, Duisburg und Mülheim. Bedingung: Regelmäßig einen Text für ein gemeinsames Buch schreiben und „die Straßen verändern“. Was auch immer das heißen sollte. Ich habe versucht, mit dem Projektkünstler Jochen Gerz über die Probleme zwischen ihm und den Teilnehmern ins Gespräch zu kommen - da ich nicht nur Journalist, sondern auch Teilnehmer bin. Doch meine Anfrage blieb seit August unbeantwortet. Ende November habe ich nachgefragt. Der Termin im Dezember fiel aus -- der Schnee. Ich habe ihn angerufen, in Irland. Er kam einmal ans Telefon, danach wurde ich abgewimmelt: Fragen schriftlich, maximal sechs Stück, Wiedergabe der Antworten nur ungekürzt. Auflagen, die anderen Medien nicht gemacht wurden.

Normalerweise bleibt von Ihrer Kunst ja vor allem verborgener Text. Jetzt aber entsteht wirklich ein Buch. Sind Sie sich mit dem Projekt 2-3-Straßen nicht untreu geworden?

Gerz: „Normalerweise“ – das gibt es in der Kunst eigentlich nicht. Sie ist ja gerade nicht das, was man von ihr erwartet. Sie trägt damit vielleicht mehr als alles andere dem Rechnung, was wir Leben, Schicksal, Zufall oder auch anders nennen. Nämlich, dass wir nicht alles wissen, entscheiden und fordern können. Von uns und von Anderen.

Wann ist Ihnen klar geworden, dass es nicht genügt, dass die Teilnehmer, die Sie zur Arbeit am gemeinsamen Text gegen freies Wohnen geladen hatten, “nur” leben und schreiben, sondern zu einer Art Sozialarbeiter light werden müssen, um die Straßen zu verändern?

Gerz:Ich habe lange genug Performances gemacht, um zu wissen, dass ohne die Geste, ohne den Mut zur körperlichen Äußerung, zur Veröffentlichung und zur kreativen Kommunikation mit Anderen auch das Schreiben nur ein privates Vergnügen bleibt. Es geht bei 2-3 Straßen um beides, die Intimität des Schreibens und die „Ausstellung“ – die Straße als ein kommunikatives und öffentliches Netz. Absicht und Ziel ist die Bevölkerung, die vor, während und nach dem europäischen Kulturhauptstadtjahr und nach 2-3 Straßen in Quartieren wohnt, die von den Städten als problematisch bezeichnet werden. Auch die Teilnehmer und sogar die Mitarbeiter vor Ort bleiben während 2010 nicht das was sie waren. Sie werden zu einem Teil der Straßen. Sie werden zur Straße und „am Ende wird meine Straße nicht mehr die gleiche sein“. Wir wollen die kulturelle Diaspora in wichtigen Teilen unserer Städte an einzelnen, beispielhaften Orten nicht nur zeigen, sondern auch beeinflussen. Wer verändern will, der geht immer auch das Risiko ein, sich selbst zu verändern. Veränderung ist keine Schande, sondern ein Zeichen von Leben und Lebhaftigkeit.

Nach meiner Beobachtung entstand zur Hälfte des Projektjahres ein Bruch. Plötzlich war Hochkultur gefragt (Präsentation im Museum Folkwang, Duisburger Philharmoniker, Auftritt im Dortmunder U, Besucherschule) die Arbeit in den Straßen wurde von den Autoren weg hin zu den Projektbüros verlagert. Rührt dieser Sinneswandel vom öffentlichen und finanziellen Druck her?

Gerz:Es gibt vieles an 2-3 Straßen, das so ist wie es ist, weil es meine Arbeit ist. Und das ist so, weil ich seit den sechziger Jahren partizipative Werke schaffe, die oft auch außerhalb des Kunstbetriebs im öffentlichen Raum entstehen. Ich glaube, dass die Gegenwartskunst alle ansprechen kann und nicht nur das: sie kann die Menschen ermutigen und zu Autoren machen. Dabei ist es nicht wichtig, ob dabei Kunst entsteht, sondern dass jeder Mensch seine ihm gegebene Kreativität auslebt. Ausleben und nicht unterdrücken, das ist nicht nur sozial wichtig, sondern auch ästhetisch sinnvoll und schön. Ausleben, das heißt: ich bin ein Teil von Anderen, sie sind ein Teil von mir. Das verändert die Straßen. Ausleben, das heißt auch: aus Konsumenten werden Autoren. Sind die Türken, Serben, Russen in unseren Straßen in Duisburg, Dortmund und Mülheim an der Ruhr nicht genau so Vertreter von Hochkultur wie wir? Die Idee zum überraschenden Auftauchen von 2-3 Straßen im neuen Museum Folkwang entstand schon 2008 in Gesprächen mit Direktor Hartwig Fischer. Die Idee zum Schreibtag im neuen Museum Ostwall im Dortmunder U kam nach einem Besuch der Freunde dieses Museums bei uns am Borsig-Platz zustande. Viele Menschen von Nah und Fern haben die Straßen und die Bewohner der Straßen in allen drei Städten besucht. Sie haben an der Besucherschule in 2-3 Straßen teilgenommen und am gemeinsamen Text mitgeschrieben. So entstand in Dortmund der Wunsch der Bewohner unserer Straße, die nicht zur typischen Klientel der Kunst gehören, die Dortmunder ins neue Museum zu einem öffentlichen Schreibtag und einer Besucherschule in 2-3 Straßen einzuladen. Für viele von denen, die kamen war es der erste Besuch eines Museums.

Im Informationsdienst Kunst sagen Sie, dass vor allem die passiven Teilnehmer unzufrieden seien und eben zur Kritik befähigter seien als zur Aktion. Nach Beobachtung vieler dieser Kritiker ist es aber genau umgekehrt: Die aktiven, selbstbewussten Teilnehmer, die auch ihre Aufgabe des täglichen Schreibens ernst nahmen, wurden ausgebremst und ignoriert. Wie erklären Sie diesen Widerspruch?

Gerz:Was auch immer in diesem Kontext geschieht und gesagt werden kann ist ein Teil von 2-3 Straßen. Kritik, Lob, Beitrag oder Selbstblockade, alles entsteht und wird möglich dank ihr. Ich war eigentlich überrascht – die Arbeit dauert ja ein Jahr – dass nicht mehr Teilnehmer das Handtuch geworfen haben, denn 2-3 Straßen ist schwierig und fordert vor allem auch von der existierenden Bevölkerung in den Straßen viel. Sie sind ja nicht für ein Jahr Kunst ins Ruhrgebiet gekommen. Wir sind keine Besserwisser oder Rechthaber und arbeiten mit allen, die gerne mit uns zusammen arbeiten wollen. Dazu gehören im Laufe des Jahres immer mehr auch die Bewohner und Familien, die ursprünglich nichts von uns wussten. Vor allem die Minderheiten, die mancherorts schon Mehrheit werden, sind wie in Duisburg-Hochfeld interessiert und aktiv. Man merkt, dass sie es bisher nicht gewohnt sind, kulturell angesprochen zu werden. Das haben natürlich auch die Wohngesellschaften erfahren. Sie haben die Wohnungen saniert und mietfrei zur Verfügung gestellt. Sie erleben 2-3 Straßen aus der Nähe. Stellen Sie sich vor, wir wären auf Ablehnung gestoßen. Die Mieterschaft hätte gegen die Kreativen in ihren Häusern protestiert. Am Ende des Jahres tritt das Gegenteil ein: die Bewohner der Straßen bedauern das Ende der künstlerischen Arbeit und die Wohngesellschaften bieten den Kreativen und neuen Mietern, die in ihren Straßen 2011 bleiben wollen, eine Mietvergünstigung an. Das Schreiben am gemeinsamen Text geht am 31. Dezember zu Ende. Das Buch mit seinen inzwischen fast 1000 Autoren, 10.000 Beiträgen, 15 Sprachen und 3000 Seiten wird im März 2011 im DUMONT Verlag erscheinen. Wie gesagt, 2-3 Straßen ist bald vorbei, doch das Leben in den Straßen geht weiter. Ein gutes Drittel derer, die am Anfang des europäischen Kulturhauptstadtjahres oft von weit her als Teilnehmer von 2-3 Straßen ins Ruhrgebiet gekommen sind, wollen hier wohnen bleiben und sich weiter in den Straßen engagieren. Das ist auch deshalb unerwartet, weil diese Gegend seit Jahren Menschen verliert.

Ebenfalls im Informationsdienst Kunst sagen Sie ja selbst - bezogen auf die Teilnehmer: “Meinen Sie etwa, dass der Maler im Atelier seiner Farbe oder seinem Modell mehr Raum gibt?” Können Sie sich vorstellen, dass das für die Teilnehmer entmündigend wirkt, gerade in einem Projekt, das sich gesellschaftliche Teilhabe und Demokratisierung auf die Fahnen geschrieben hat, zum “Menschenmaterial” herabgestuft zu werden?

Gerz:Ich habe gesagt, dass alle Menschen kreativ sind, aber ich habe nicht gesagt, dass alle Menschen etwas von Kunst verstehen. Ohne unsere eigene Kreativität können wir uns nicht ausdrücken und gegenüber Anderen verständlich machen. Es gibt für mich kein lebloses Material, wenn Sie das meinen. Alles ist Energie, Bewegung und Beitrag. Alles ist Veränderung. Kreativ sein heißt nur im Tun das eigene Leben zu begreifen. Das Kriterium für die Teilnahme an 2-3 Straßen ist nicht der Mietvertrag, sondern der eigene Beitrag.

Aus meiner Sicht gibt es für Sie nur eine Lösung, wie Sie Ihre Glaubwürdigkeit wieder herstellen können: Sie müssten sagen: Das Mundtotmachen und Ausgrenzen aller kritischen Stimmen aus dem Chor der Teilnehmer war der Versuch, herauszufinden, ob totalitäre Herrschaft endlich keine Chance mehr hat. Wann haben Sie vor, diesen Schleier zu lüften? Oder braucht Kunst die Diktatur des Künstlers?

Gerz:Wie schon gesagt, ist auch Unverständnis notwendig als Teil einer Arbeit, die wenig Vorbilder hat und die für die vielen Menschen, die sie gemeinsam verwirklichen neue, unerwartete, schwierige und widersprüchliche Erlebnisse bringt. Auch ich bin einer dieser Menschen, die manchmal zweifeln. Kunst ist kein Mehrheitsbeschaffer. Was Ihre Befürchtungen wegen einer neuen Künstlerdiktatur betreffen, kann ich Sie aber beruhigen: zwei Diktaturen auf deutschem Boden sind genug.