Essen. Dub-Experimente, Sorgen um die Demokratie und Wege aus dem Geniekult: Dirk von Lowtzow über das neue Tocotronic-Album „Golden Years“.

Mit ihrem Debütalbum „Digital ist besser“ mischten Tocotronic im Jahr 1995 die deutsche Musikszene auf – ihr sloganhafter, schrammeliger LoFi-Indierock beförderte sie nicht nur in die erste Reihe der „Hamburger Schule“, sondern traf eine ganze junge Generation ins Herz. Seitdem sind zwölf weitere Alben erschienen, und Tocotronic-Songs sind längst ausgefeilte Indie-Klangkonstruktionen geworden, in denen Sänger und Gitarrist Dirk von Lowtzow mal kunstvoll verrätselt, mal ganz alltagssprachlich über das große Ganze und seine kleinen Banalitäten reflektiert. Im Gespräch zum neuen, 14. Tocotronic-Album „Golden Years“ entpuppt er sich als aufgeschlossener, präzise formulierender Freigeist – für den Popmusik nur im Dialog existieren kann.

Herr von Lowtzow, „Golden Years“, das könnten die „Goldenen Jahre“ der Rente sein, ein sarkastischer Kommentar zur Gegenwart, ein goldener Hoffnungsschimmer oder eine Hommage an den gleichnamigen David-Bowie-Song. Was verstehen Sie darunter?

Dirk von Lowtzow: Genau das. Für uns war es ein offenes System, ein Titel, der zum freien Assoziieren einlädt. Und da denke ich schon genau an die drei, vier Dinge, die Sie genannt haben. Seit diesen schrecklichen Bränden in L.A. kommt bei mir immer noch so ein leicht apokalyptischer Strang dazu, dass ich denke: „Golden Years“, das kann man auch mit der Klimakatastrophe in Verbindung bringen. Weil diese Feuer orange-golden leuchten.

Der Bowie-Song ist 1975 entstanden, bevor Bowie sich in Berlin wieder einmal neu erfunden hat. Sie verarbeiten das auf dem Album mit dem krachigen Rocksong „Ein Rockstar stirbt zum zweiten Mal“. Haben Tocotronic sich für „Golden Years“ auch nochmal neu erfunden?

Wenn man das von sich selber behauptet, ist das immer ein bisschen selbstgerecht und vermessen. Aber dieser moderne Sound, der ist zumindest in unserem Kontext neu – obwohl viele Stücke auf dem Album einen Rückgriff haben, auch zu sehr frühen Tocotronic-Songs.

Tocotronic 2025 - Pressebild
Auf dem neuen Album findet sich mit „By Bye Berlin“ auch ein Song über die langjährige Wahlheimat der Band. In dem zelebrieren sie einen Abgesang auf die Stadt, die zuletzt politisch wieder enger geworden sei. © Noel Richter | Noel Richter

Musikalisch lässt sich Ihr neues Album schwer festlegen: Es gibt Country-Shuffle, leicht dissonanten Indierock, ätherisch wabernde Balladen. Gibt es für Tocotronic noch Regeln, was beim Songschreiben geht oder nicht geht?

Das passiert intuitiv. Wir haben ein Gefühl dafür, dass dieses oder jenes tocotronisch sein könnte. Wir hören alle sehr breit gefächert Musik und wenn wir das Gefühl haben, etwas kann in unseren Kosmos Einzug halten, dann lassen wir das zu. Zum Beispiel gibt es auf diesem Album das Stück „Niedrig“, das ist fast Dub-Rock, und das ist schon ungewöhnlich für uns. Aber da ich so ein Riesen-Dub-Fan bin, war das immer mein Traum, etwas zu schreiben, das in dieser Rhythmisierung funktioniert.

Vergänglichkeit als prägendes Motiv der „Golden Years“

Das Thema „Vergänglichkeit“ zieht sich ab dem ersten Song „Der Tod ist nur ein Traum“ durch das Album. Warum ist das Existenzielle so stark auf dieser Platte?

Das ist eine sehr gute Frage. Ein subjektiver Grund ist das eigene Alter: Wir sind alle Mitte 50, da wird einem die Vergänglichkeit des Lebens natürlich sehr viel stärker bewusst, als wenn man Mitte 30 ist. Das ist eine Banalität, aber es ist so. Man hat Angehörige, die Krankheiten bekommen, Freunde, die plötzlich nicht mehr da sind. Das beschäftigt einen natürlich. Und weil ich unsere Alben als „Statusmeldungen“ verstehe, muss das natürlich auch mit rein, wenn man mit einer gewissen Großzügigkeit von sich selbst berichten möchte.

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„Das Politische erschöpft sich nicht nur in Slogans.“

Dirk von Lowtzow
Sänger und Gitarrist von Tocotronic

Und was wäre ein objektiver Grund?

Vielleicht, dass ich das Gefühl habe, dass wir in sehr existenziellen Zeiten leben. Sogar in Zeiten existenzieller Bedrohung. Unser vorheriges Album ist kurz nach der Corona-Krise herausgekommen. Dann war gleich der russische Überfall auf die Ukraine. Ganz zu schweigen von Klima, Extremwetterlagen und so weiter. Ich glaube, wir leben in einer Zeit, in der man an sich eine Verletzlichkeit feststellt und auch Verluste zu beklagen hat. Also sehr existenzielle Erfahrungen macht. Und das unterscheidet diese Zeiten, in denen wir jetzt leben, von den Zeiten Mitte der 00er-Jahre bis Mitte der 10er-Jahre, wo man stärker ästhetische Erfahrungen machen konnte, weil alles ein bisschen offener erschien.

„Denn sie wissen, was sie tun“: Ein Song gegen den Verfall der Demokratie

Der einzige konkret politische Song auf dem neuen Album heißt „Denn sie wissen, was sie tun“ – ein Anti-AfD-Song, oder allgemeiner: ein Lied gegen Niedertracht und Gemeinheit …

Ein bisschen würde ich widersprechen: Das Politische erschöpft sich nicht nur in Slogans oder in der aktivistischen Haltung. Sondern es sickert in die Lieder ein, und fast alle diese neuen Lieder sind auf irgendeine Art und Weise musikalische Mikro-Lebensdramen. In all diesen Leben, die da beschrieben werden, oder Lebenssituationen, ist auch immer etwas Politisches zu finden. Und auch in vielen Alltagsbeschreibungen, wie zum Beispiel im Titelsong, „Die Menschen in der zweiten Klasse“ im Zug, das hat natürlich auch etwas Klassenkämpferisches. Ich finde es nicht so leicht bestimmbar, wo das Politische anfängt und wo es aufhört.

Dennoch tritt dieses Politische auf dem Album nirgends so offen zutage wie in „Denn sie wissen, was sie tun“. Was hat Sie motiviert, den Song zu schreiben?

Man kann es genau so lesen, wie Sie es getan haben: als Lied über Menschen, die Niedertracht zur Durchsetzung ihrer persönlichen oder politischen Ziele benutzen. Wir haben es als Single rausgebracht und dabei mit dem Hashtag #noafd versehen, weil es ziemlich kurz nach den Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen rauskam, wo die AfD extrem hohe Werte erzielt hat, teilweise über 30 Prozent. Vor zwei, drei Jahren hätten wir uns das nicht im Traum vorgestellt. Das war der Anlass, das Stück genau so zu machen und zu veröffentlichen, weil wir das Gefühl hatten: Hier ist jetzt wirklich die Demokratie in Gefahr.

Tocotronic -
"Golden Years“, das am 14. Februar beim Label Epic Records Germany erscheint, ist bereits das 14. Tocotronic-Album seit der Bandgründung 1993. © Epic Records Germany | HANDOUT

Im Song heißt es, man müsse diese Menschen bekämpfen, aber gewaltlos, denn: „Wenn wir sie auf die Münder küssen / Machen wir sie schneller kalt“. Das erinnert an Tucholskys „Küsst die Faschisten, wo ihr sie trefft“, aber ohne die beißende Ironie. Zärtlichkeit gegen Hass – kann das funktionieren?

Zum einen ist es so: Von Typen wie uns würde man nicht unbedingt erwarten, dass wir jetzt mit dem verbalen Baseballschläger kommen. Wir sind Typen, die noch nie eine Schlägerei angefangen haben. Deshalb ist uns dieses Weiche, Unmännliche, das Gegenteil von so maskulinistischer Körperpanzer-Lyrik natürlich näher.

Gleichwohl wäre ich vorsichtig mit der Einschätzung, weil das doch ein sehr drastisches Bild ist. Ich glaube, wenn man jemanden auf den Mund küsst und ihn dadurch kalt macht, dann bedeutet es schon, dass man ihm die Luft zum Atmen nimmt. Da steckt schon auch eine Art Tötungsfantasie drin, die sich dann beißt mit diesem Satz „Aber niemals mit Gewalt“. Meine Hoffnung, unsere Hoffnung als Band wäre, dass das Lied gerade durch diese Dialektik eine poetische Kraft entfaltet, und vielleicht auch so etwas wie einen bösen Witz. Weil ich glaube, mit so einem bösen Witz kann man schon etwas ausrichten.

Die persönliche Konzert-Begegnung ist Tocotronic wichtig

Im Titelsong von „Golden Years“ geht es um Heimweh und Liebessehnsucht im Künstlerleben unterwegs – „Aber man muss dankbar sein, wenn man den Leuten noch begegnet, nicht nur als Klick auf Spotify“. Machen diese zwei Stunden am Abend auf der Bühne den ganzen Tourstress wett?

In den allermeisten Fällen: ja. Und oft auch auf unvorhergesehene Art und Weise. Eine Inspiration für dieses Lied war ein Konzert, das wir im Sommer 2023 in Dinslaken gegeben haben, auf einer Freilichtbühne. Und ohne Dinslaken zu nahe treten zu wollen: Ich habe das nicht als den Nabel der Welt empfunden. Und es hat zudem noch aus Eimern geregnet. Trotzdem war es eines der schönsten Konzerte, die wir je gespielt haben. Weil es so toll anzusehen war, wie die Leute da im Regen in diesem verwunschenen Park standen und durchgehalten haben.

Im Text heißt es allerdings: „Freilichtbühne Recklinghausen / Wo die öden Winde wehen“. Zufällige Verfremdung oder verbinden Sie mit Recklinghausen etwas Konkretes?

Nee, ich fand einfach das Wortpaar gut. Ich dachte an dieses Konzert in Dinslaken, das war die Blaupause. Aber „Freilichtbühne Recklinghausen“ klingt phonetisch so wahnsinnig schön. Das geht einem gut über die Lippen und lässt sich gut singen.

Mit Intuition und Handwerk zum Song

Sie haben eben schon über Intuition beim Songschreiben gesprochen. Von der handelt auch der vorletzte Song „Der Seher“: Ein „umwehtes Menschenkind“ fischt Songs aus dem kosmischen Strom des Daseins – ohne zu wissen, woher und wie.

Sehr schön!

Fühlen Sie sich als Musiker selbst auch als so ein „Seher“, der vollkommen intuitiv schöpft?

Ja. Man taumelt ziemlich blind herum und findet dann etwas.

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Früher in Trainingsjacke, heute von schlichter Eleganz und Coolness: Tocotronic. © Noel Richter | Noel Richter

Auch nach 30 Jahren handwerklicher Erfahrung damit?

Ja, ich glaube, dieses Irrlichternde ist etwas, das man sich erhalten muss. Gerade, weil man in 30 Jahren gewisse Routinen nicht verhindern kann, ist es wichtig, dagegen anzugehen.

Wieder naiv sein, sich von allem frei machen?

Ganz genau. Man muss manchmal naiv werden, wieder Kind werden, sich nochmal mit ganz großen Augen mit einem Gegenstand auseinandersetzen. Man muss vielleicht auch mal was Blödes, Beklopptes zulassen, um sich selber zu überraschen. Denn diese Routinen sind sehr gefährlich. Und davor bin ich auch nicht gefeit, weil ich eine ziemlich kurze Lunte habe, ich bin recht ungeduldig. Ich denke schnell: Ist doch super. Und werde dann von Arne [Zank, Schlagzeuger] oder Jan [Müller, Bassist] darauf aufmerksam gemacht, dass wir dieses oder jenes Thema, Wort, diesen einen Satz oder dieses eine Gefühl schon mal hatten. Ich neige dazu, das zu vergessen und werde oft ein bisschen selbstzufrieden im Songschreiben. Deshalb ist es ganz wichtig, dass es so ein Korrektiv gibt.

Nach „Der Seher“ folgt ein weiteres Stück übers Lieder-Schreiben: „Jeden Tag einen Song“ schreibt der Ich-Erzähler darin, und verwirft sie dann alle wieder. Klingt nach einer ziemlichen Sisyphusarbeit …

Es gibt das schöne Buch „Wie schreibe ich einen Song“ von Jeff Tweedy von Wilco, den ich sehr verehre. Da geht es auch darum, dass man jeden Tag einen Song schreiben muss. Ich fand die Idee super. Es gab Zeiten während der Vorbereitung des Albums, wo ich das auch gemacht habe. Das ist ein sehr handwerklicher Ansatz ans Musizieren, der ein bisschen gegen den Geniekult gerichtet ist. Das gefällt mir gut. So, wie es auch diesen schönen Satz hinten auf dem Buchrücken bei Rainald-Goetz-Büchern gab: „Don’t Cry – Work“. Man muss einfach machen. Das führt natürlich dazu, dass man eine ganze Menge wegschmeißt. Aber es ist nichts umsonst.

Popmusik als Dialog von Musikern und ihren Hörern

Auf dem Album gibt es diverse Songs, in denen eine Art rettendes „Du“ auftritt. Brauchen wir im Leben immer den Anderen oder die Andere?

Für mich gilt das. Ich habe immer das Gefühl, dass ich nicht alleine denken kann, sondern nur im Verbund mit einem Gegenüber. Selbst, wenn es nur imaginär ist. Ich kann auch nicht gut leise denken. Ich muss Dinge laut vor mir hersagen, an dieses imaginierte Gegenüber.

Diese „Rettungs-Songs“ funktionieren auch als eine Art Gegengewicht zu jenen, die von Vergänglichkeit handeln. Brauchen Sie diese Balance?

Das sind Widerstreite, die in uns als Band drinstecken. Wir hatten schon von Anfang an das Gefühl, dass wir uns mitteilen und allen alles erzählen wollen und die Leute uns auch mögen sollen. Gleichzeitig wollten wir uns aber stark abgrenzen und gegen jede Vereinnahmung wehren. Dieses Schizophrene, das steckt in uns.

Auch diese Viel- und Uneindeutigkeit, von der wir am Anfang sprachen und die das Album auszeichnet?

Auf jeden Fall. Ich finde geschlossene Systeme gerade in der heutigen Zeit eher unangenehm, weil ich das als irre autoritär empfinde. Wenn ich mich mit künstlerischen Werken anderer auseinandersetze, fällt mir das auch immer sofort unangenehm auf, wenn ich das Gefühl habe, ich soll bevormundet, pädagogisiert werden, dann bin ich raus. Ich mag offene Systeme. Speziell bei Popmusik, die ja nur durch ein Geben und Nehmen überhaupt existieren kann. Dadurch, dass man als Hörender etwas nimmt und in sein eigenes Leben einspeist oder es vielleicht sogar transformiert oder es sich zu eigen macht, entsteht ja Popmusik überhaupt erst. Wenn das Gegenüber nicht aktiv daran mitarbeitet, dann gibt es diese Songs gar nicht.

Es gibt auf „Golden Years“ einen Schlüsselmoment im ersten Song, wo der Ich-Erzähler den Hörenden zuraunt, man könne ihm „fast vertrauen“. Können wir diesem Tocotronic-Album vertrauen?

Ich glaube nicht. Ich glaube, wenn das Album ein bisschen was taugt, dann sollte es einem zumindest ein Stück weit den Boden unter den Füßen wegziehen. Das ist eine Eigenschaft von Kunst, die ich persönlich sehr mag.

Das neue Tocotronic-Album „Golden Years“ erscheint am 14. Februar bei Epic Records Germany.

Tocotronic touren ab März mit ihrem neuen Album durch Deutschland. Live zu sehen sind sie an den folgenden Terminen (Tickets unter tocotronic.de):

19.03. Leipzig - Felsenkeller (Ausverkauft)
20.03. Stuttgart - Im Wizemann
21.03. Nürnberg - Z-Bau
22.03. Wien - Konzerthaus
26.03. München - Tonhalle
27.03. Freiburg - E-Werk
28.03. Zürich - X-TRA
29.03. Wiesbaden - Schlachthof
09.04. Bremen - Schlachthof
10.04. Dortmund - FZW 
11.04. Hannover - Capitol
12.04. Köln - E-Werk
20.04. Berlin - Columbiahalle
24.04. Hamburg - Große Freiheit 36
25.04. Hamburg - Große Freiheit 36 (Ausverkauft)
26.04. Hamburg - Große Freiheit 36 (Ausverkauft)
06.06. Nürburgring - Rock am Ring
08.06. Nürnberg - Rock im Park 
20.09. Leipzig - Parkbühne