Gelsenkirchen. Mit Puccinis „La Bohème“ ist das Musiktheater im Revier ein Wagnis eingegangen: Wer bei der Premiere besonders überzeugte.
Er war ein notorischer Frauenheld, zum Leidwesen seiner Ehefrau Elvira. Zugleich neigte Giacomo Puccini der französischen Kultur zu, insbesondere Paris, Handlungsort einiger seiner Opern. Zu ihnen zählt „La Bohème“, die das Künstlerleben einerseits glorifiziert, andererseits dessen Nöte zeigt. Erstmals seit 2007 bringt das Musiktheater im Revier (MiR) diesen Welterfolg des Komponisten wieder auf die Gelsenkirchener Opernbühne.
Eine „entschlackte“ Version hatte Regisseurin Sandra Wissmann im Vorfeld angekündigt. Und tatsächlich ist die Ausstattung eher nüchtern: Auf die Drehbühne hat Britta Tönne einen Aufbau mit einer einsehbaren Dachwohnung gesetzt. Hier scheint das Künstlerquartett zunächst über den Mühen der Ebene zu schweben, steigt dann aber hinab in das Straßentreiben vor dem Café Momus, in das sich allerhand traurige Harlekine mischen.
Handlung von 1830 in die 1920er-Jahre verlegt
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Inspiriert von Ernest Hemingways literarischem Tagebuch „Paris – ein Fest fürs Leben“, verlegt die Regisseurin die Handlung von 1830 in die 1920er Jahre, folglich vom Quartier Latin in den Bezirk Montmartre. Das spiegelt sich vor allem in der frech-frischen Anmutung der Kostüme (Beata Kornatowska), die mit vielen Accessoires wie Federn, Stirnbändern, Ketten und Hüten spielen. Exzentrische Frauen wie Kiki de Montparnasse haben da Vorbild gestanden.
Sandra Wissmann erzählt geradlinig, zuweilen fast zu brav davon, wie die vier Lebenskünstler allmählich von den Härten des Lebens gebeutelt werden. Dass sie Ausgegrenzte am unteren Rand der Gesellschaft sein könnten, kommt einem bei diesem gutgelaunten Herren-Quartett nicht in den Sinn. Dafür richtet die Regie einen ebenso klaren wie liebevollen Blick auf die Paar-Konstellationen, die – aus unterschiedlichen Gründen – nicht funktionieren. Wissmann hat Sinn für die Tragik, dass Rodolfo/Mimi und Marcello/Musetta aller Liebe zum Trotz an einem dauerhaften Zusammenleben scheitern. Dass Armut auf Dauer auch den ausgelassensten Lebenshunger unterkriegt, zeigt sie ebenfalls.
Mit dieser Oper ging das MiR ein Wagnis ein
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Trotz vieler berühmter Aufnahmen dieser Oper ist das MiR das Wagnis eingegangen, die Produktion allein mit hauseigenen Kräften zu stemmen. Das Ergebnis ist fast durchweg überzeugend. Vor allem die Mimi von Heejin Kim wird am Premierenabend gefeiert. Für die kleine Näherin mit dem großen Herzen findet sie schüchterne bis kokette Töne. Aber sie kann auch glutvolle Bögen ziehen, Verzweiflungsausbrüche flexibel und mit Wärme formen. Der Bariton von Simon Stricker (Marcello) klingt wunderbar kernig, im Streit mit Musetta auch grimmig. Umso bewegender ist es, wenn er schließlich volles Mitgefühl in seine Stimme legt.
Margot Genet zelebriert eine herrlich theatralische Musetta-Szene, mischt einen Hauch Schärfe in ihren dunkel gefärbten Sopran, verkörpert ganz die feurige Kokotte. Khanyiso Gwenxane hat lange Schwierigkeiten, stimmlich in die Rolle des Rodolfo hineinzufinden. Sein angenehm heller Tenor besitzt viel Volumen, klingt zunächst aber flackernd, nicht fokussiert. Erst ganz allmählich erreicht die Stimme Projektion, beginnt dann auch im Raum zu tragen. Bleibt die Arie „Che gelida manina“ noch mehr Versprechen als Erfüllung, legt er nach der Pause deutlich zu und kann schließlich doch überzeugen.
Dirigent Giuliano Betta gelingt meisterhafte Premiere
Große Freude macht das Puccini-Spiel der Neuen Philharmonie Westfalen, die viel Glanz und Gloria zu dieser Premiere beiträgt, die wuchtige Massenszenen mit impressionistischer Detailkunst verbindet. Chor und Kinderchor sind stimmstark und voller Spielfreude dabei (Einstudierung: Alexander Eberle, Zeljo Davutovic). Dirigent Giuliano Betta tut erkennbar alles, um die Gesangssolistinnen und -solisten zu unterstützen. Was am Premierenabend geht und was nicht, weiß er ganz genau – und reagiert entsprechend. Meisterhaft!
Romanvorlage: „Scènes de la vie de bohème“ von Henri Murger, Aufführungsdauer: 2 Stunden 30 Minuten, Pause nach dem 2. Bild, Vorstellung in italienischer Sprache mit deutschen Übertiteln. Weitere Termine: 9., 13., 21. Februar, 8. März, 12., 20. 27. April. Karten und Informationen: www.musiktheater-im-revier.de