Berlin. Das dänische Filmdrama zeichnet den Überlebenskampf einer jungen Frau nach dem Ersten Weltkrieg in düstersten Bildern nach.
Gesichter in Großaufnahme. Verzerrt wie durch einen Spiegel aus dem Gruselkabinett, hintereinander, eins absonderlicher als das andere, soweit sie im flackernden Licht wahrzunehmen sind, sonst nur abgründiges Schwarz. „Das Mädchen mit der Nadel“ beginnt furchteinflößend grotesk, die ersten Schwarzweißbilder, untermalt mit einem ebenso dräuend-verzerrten Soundtrack, geben schon eine Vorahnung der Körper und Geist entstellenden Gräuel, von denen das düstere Horrordrama so eindrücklich erzählt.
Eine junge Frau kommt unter die Räder der Nachkriegszeit
Der Erste Weltkrieg ist noch nicht lange vorbei, dessen Folgen sind auch in Kopenhagen unübersehbar. Es herrscht große Armut. Die Männer kommen, wenn überhaupt, meist schwer verletzt aus dem Krieg zurück. Die Frauen schlagen sich durch, wie die junge Karoline (Vic Carmen Sonne), die als Näherin in einer Fabrik für einen Hungerlohn schuftet und trotzdem noch vom Vorarbeiter angeherrscht wird, wenn es ihm nicht schnell genug geht. Ihr Ehemann wurde, wie so viele, in die Armee des deutschen Kaiserreichs eingezogen, sein Schicksal seitdem ungewiss.
Die Miete für ihr kleines, heruntergekommenes Zimmer kann Karoline bald nicht mehr bezahlen, ein Witwenzuschlag wird ihr jedoch verwehrt, solange sie den Tod ihres Mannes nicht mit einer Sterbeurkunde belegen kann. Der Firmenbesitzer, der ihr das ausgenommen freundlich erklärt, hat Gefallen an der jungen Frau in der misslichen Lage gefunden und beginnt eine heimliche Affäre mit ihr.
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Bald erwartet Karoline ein Kind, doch die Mutter ist strikt gegen das Verhältnis ihres Sohnes, und der gehorcht. In ihrer Verzweiflung versucht Karoline in einer öffentlichen Badeanstalt mit einer Stricknadel das Ungeborene abzutreiben und wird im letzten Moment von einer Fremden davon abgehalten.
Eine unvermittelte Freundin erweist sich als trügerisch
Und damit tritt spät in der Geschichte die zweite Hauptfigur auf, die Karolines weiteres Dasein entscheidend prägen wird: Dagmar (Trine Dyrholm) stellt sich als eine Art Adoptionsvermittlerin vor, die Müttern in Not dabei hilft, für ihre ungewollten Babys ein neues Zuhause zu finden. Sie überredet Karoline, das Kind auszutragen und verspricht ihr, es in einer wohlhabenden Familie unterzubringen. Die beiden freunden sich an, Karoline hilft beim illegalen Kinderhandel, bis sie mit Schrecken das wahre Treiben Dagmars entdeckt.
„Das Mädchen mit der Nadel“ basiert auf einer realen Mordserie an Säuglingen, die sich in Dänemark zur Zeit des Ersten Weltkriegs ereignete. Dagmar Overby ließ sich von Müttern bezahlen, ihr deren Neugeborenen zur Adoption zu geben. Statt neue Familien zu finden, brachte sie die aber Babys um. Overby gilt heute als wohl berühmt-berüchtigste Serienmörderin des Landes.
Der schwedische Regisseur Magnus von Horn und seine Koautorin Line Langebek verweben diesen Fall, erzählt aus der Perspektive einer anderen Frau, zu einer verstörenden Textur aus düsterem Sozialdrama und einem Schauermärchen für Erwachsene.
Abgründe einer verlorenen Epoche
Ein großer Teil des Films ist dabei im polnischen Lodz entstanden, wo der 41-jährige Regisseur an der Filmhochschule studiert hat und seit Langem mit seiner Familie lebt. Dass die beengten Innenräume und knöcheltief verschlammten Gassen doch wie Kopenhagen vor 100 Jahren wirken, liegt auch am herausragenden Szenenbild von Jagna Dobesz, die dafür im Dezember mit einem Europäischen Filmpreis geehrt wurde.
Mit seinen extrem stilisierten Schwarzweißbildern verweist von Horns dritter Spielfilm nach „The Here After“ (2015) und „Sweat“ (2020) deutlich auf das expressionistische Stummfilmkino. Das kontrastreiche Spiel mit Licht und Schatten sind ebenso wie die melodramatischen Großaufnahmen von Gesichtern aber nie Selbstzweck oder bloßes Zitat, sondern spiegeln die Abgründe einer verlorenen Generation und ihrer Epoche.
Irgendwann taucht Karolines Mann kriegsversehrt in der Stadt auf, mit zerfetztem Gesicht, das er hinter einer der damals gebräuchlichen Ledermasken verbirgt, die die Konturen mehr schlecht als recht nachahmten, aber die einzige Möglichkeit war, lange vor den Errungenschaften der plastischen Chirurgie, sich zumindest äußerlich wieder halbwegs in das soziale Leben der Gemeinschaft zu integrieren.
Vom Behandeln der psychischen Wunden war man dagegen noch weit entfernt. Karoline weiß mit diesem Krüppel nichts anzufangen und lässt sich mit dem Fabrikanten ein. Was hat sie schon noch zu verlieren? Wenn sie nur wüsste.
Historiendrama, Dänemark, Polen, Schweden 2024, 115 min., von Magnus von Horn, mit Victoria Carmen Sonne, Trine Dyrholm, Besir Zeciri