Essen. Das Symbol des Rock’n’Roll: Ohne die elektrische Gitarre wäre die Popmusik nicht denkbar. Der Prototyp wurde vor 100 Jahren entwickelt.

Kaum ein Instrument hat die Welt so nachhaltig verändert wie die elektrische Gitarre. Ihr Klang hatte die Wucht einer Kulturrevolution. Ab den frühen 1920er-Jahren experimentierten verschiedene Tüftler mit Saiteninstrumenten, von denen etliche später für sich beanspruchten, der wahre Erfinder der E-Gitarre zu sein. Der Texaner George D. Beauchamp (1899-1941) etwa war besessen von der Vorstellung eines elektrisch verstärken Instruments. Da der Vergrößerung des Klangvolumens natürliche Grenzen gesetzt sind, kam er 1925 schließlich auf die Idee, die Schwingungen der Saiten einer Steel-Gitarre direkt am Entstehungsort abzugreifen. Dazu befestigte er den elektromagnetischen Tonabnehmer eines Plattenspielers (nicht den eines Grammophons!) an einem Instrument aus massivem Material – der Vorläufer der Solidbody-Gitarre war geboren. An Stelle der Tonnadel führte der Tüftler die Saiten ins Magnetfeld des Tonabnehmers. Um seine Erfindung auf den Markt zu bringen, brauchte Beauchamp kompetente Unterstützung.

Gemeinsam mit dem Schweizer Adolph Rickenbacker (1887-1976) und dem Kalifornier Paul Barth (1908-1973) feilte er nun an einem Serienmodell. Die Experimente gipfelten in einem der ersten Tonabnehmer („Pickup“) für Gitarren. Er machte sich die Schwingung von sechs Stahlsaiten direkt zunutze. Beauchamps, Rickenbackers und Barths elektrische Lap-Steel war ein uriger Klotz. Er handelte sich wegen seines kleinen kreisrunden Korpus aus Aluminium den Namen „Bratpfanne“ ein. Die akustischen Eigenschaften bei diesem Instrument erzeugten allerdings noch eine Menge unerwünschter Rückkopplungen.

Zwei Gibson Les Paul Goldtop E-Gitarren aus dem Jahr 1950.
Zwei Gibson Les Paul Goldtop E-Gitarren aus dem Jahr 1950. © Guitarist Magazine/Future via Getty Images | Guitarist Magazine

Trotzdem avancierte die Rickenbacker zu einer der weltweit bedeutendsten Marken ihrer Art. Nach dem Vorbild der Electro A-22 funktionieren auch heute noch fast alle Stromgitarren. Da Adolph Rickenbacker gute Beziehungen zur US-Unterhaltungsindustrie hatte, war seine in Los Angeles produzierte „Volksgitarre“ alsbald auf zahlreichen Hits zu hören – von Bing Crosby bis zu Sol Hoopii, dem populären Hawaiianischen Steel-Gitarristen.

Nicht nur deshalb sah die in Kalamazoo/Michigan ansässige Konkurrenzfirma Gibson sich gezwungen, nachzuziehen – mit einem eigenen, konventionell geformten Modell. Der Musiker Charlie Christian wurde in der zweiten Hälfte der 1930er zum ersten Star dieses neuartigen Instruments. Dessen wohlgeformter Körper schien den Rundungen einer Traumfrau nachempfunden. Dank des elektrisch verstärkten Klangs der Gibson ES-150 war der junge Afroamerikaner aus dem Orchester des weißen Bandleaders Benny Goodman fortan in der Lage, auf dem altgedienten Rhythmus-Brett endlich auch Soli zu spielen. Christian sollte nicht der einzige Neutöner bleiben.

Gibsons legendäres E-Gitarren-Modell „Flying“, das sich Jimi Hendrix für seine Zwecke bemalt hatte.
Gibsons legendäres E-Gitarren-Modell „Flying“, das sich Jimi Hendrix für seine Zwecke bemalt hatte. © imago images / ZUMA Press | imago classic

Parallel entwickelte der Bluesmann T-Bone Walker (1910-1975) aus Texas mit einer von Leo Fender (1909-1991) konstruierten E-Gitarre gänzlich neue Ausdrucksformen. Fender, ein ehemaliger Rundfunktechniker aus Südkalifornien, begann nach dem Zweiten Weltkrieg, E-Gitarren mit einem massiven Korpus in Serie herzustellen. Die Fender Telecaster verursachte keine Rückkopplungen mehr und war enorm widerstandsfähig. Leo Fender hatte sein „Baby“ so weit vereinfacht, dass es praktisch von jedem Hobbymusiker in Einzelteile zerlegt und wieder zusammengeschraubt werden konnte. Man benötigte dafür lediglich einen Schraubenzieher und einen Lötkolben.

Inspiriert durch Charlie Christians Aufnahmen, aber nicht in der Lage, sich eine importierte Gitarre zu leisten, baute der Jamaikaner Hedley Jones (1917-2017) sich selbst eine Elektrische mit massivem Korpus. Im September 1940 wurde er damit auf der Titelseite des Magazins „The Gleaner“ abgebildet. Der Musiker, Tontechniker, Gewerkschafter und Schriftsteller entwickelte auch die ersten Beschallungsanlagen und Verkehrsampeln in Jamaika.

Led Zeppelin-Star Jimmy Page mit seiner Doppelhals-Gitarre, auf der er Wunderwerke vollbrachte, die ihn zum drittbesten E-Gitarristen der Geschichte machte.
Led Zeppelin-Star Jimmy Page mit seiner Doppelhals-Gitarre, auf der er Wunderwerke vollbrachte, die ihn zum drittbesten E-Gitarristen der Geschichte machte. © Getty Images | Getty Images

Zur selben Zeit leistete Les Paul in den USA Pionierarbeit. Der Wahl-New Yorker gehörte in den 1940er Jahren zu den populärsten Gitarristen in seiner Heimat. Die Idee, den hohlen Korpus durch einen massiven zu ersetzen, ging ursprünglich von ihm aus. Paul hatte die Erfahrung gemacht, dass die E-Gitarre eigentlich gar keinen Hohlkörper braucht. Der sorge ohnehin nur für störende Rückkopplungen. Paul stellte sein Knowhow schließlich Gibson zur Verfügung und so kam 1952 das berühmte Les-Paul-Modell auf den Markt. Es war von Anfang an auf Qualität ausgerichtet. Ein edler Korpus aus Schichten von Ahorn und Mahagoni, ausgeliefert in goldfarbener Lackierung. Der Konkurrent Fender reagierte prompt. 1954 präsentierte die Firma mit ihrer Stratocaster eines der erfolgreichsten Modelle überhaupt. Hier endet praktisch die Entwicklungsgeschichte der E-Gitarre. Gleichzeitig war ihr Siegeszug als Herz einer kulturellen Revolution nicht mehr aufzuhalten.

Der legendäre Les Paul 1947 in New York.
Der legendäre Les Paul 1947 in New York. © ullstein bild | Heritage Images

Der hoch begabte Musiker und Instrumentenbauer Wenzel Rossmeisl (1902-1975) und sein Sohn Roger Raimund (1927-1979) waren die ersten, die in Deutschland elektrische Gitarren (Markenname: Roger) herstellen. Der Junior entwickelte 1947 für den Jazzer Coco Schumann einen elektromagnetischen Tonabnehmer. Später arbeitete er in den USA für Rickenbacker und Fender.

Die Medien schlugen in den 1950ern Kapital aus dem Image des rebellischen Rock’n’Rollers mit angeklatschtem Haar, Lederjacke, Motorrad – und E-Gitarre. In ihren frühen Tagen spielten die Beatles gleich diverse Rickenbacker-Modelle. Allein John Lennon besaß vier davon. Jimi Hendrix war Mitte der 1960er der erste, der seine Fender Stratocaster so spielte, als stünde er selbst unter Strom. Les Paul hat sie alle überlebt. Der vielseitig Talentierte, der 2009 im biblischen Alter von 94 Jahren starb, war nicht nur ein technischer Innovator. Er war auch musikalischer Begleiter von Frank Sinatra , Django Reinhardt und Bing Crosby. Heute gilt Les Paul als einer der ersten Virtuosen auf der E-Gitarre. „Seine“ Gibson Les Paul wird seit über einem halben Jahrhunderts ununterbrochen von diversen Musik-Legenden gespielt. Die Traditionsmarken wie Gibson, Fender, Gretsch und Rickenbacker aber reproduzieren sich heute eigentlich nur noch selbst.