Berlin. Selten gab es einen so tiefen und empathischen Einblick in die indische Gesellschaft. In Cannes gab es dafür die Silbermedaille.

Kaum irgendwo in der Welt werden so viele Filme gedreht und Kinotickets verkauft wie in Indien. In Europa bekommt man davon nur selten etwas mit. Payal Kapadias „All We Imagine as Light“ bildete beim diesjährigen Filmfestival von Cannes eine Ausnahme.

Nach über 30 Jahren war das Spielfilmdebüt der zuvor mit Dokumentarfilmen in Erscheinung getretenen Regisseurin der erste indische Film, der wieder um eine Goldene Palme konkurrierte – und von der Jury unter der Vorsitz von Greta Gerwig prompt mit dem Grand Prix, der Silbermedaille des Festivals, ausgezeichnet wurde.

Drei Frauen, die vom Dorf in die Stadt kamen

Wer daraus schließt, dass es sich bei „All We Imagine...“ um keinen typischen Bollywood-Film handelt, liegt richtig. Aber er unterschiedet sich auch sehr vom europäischen Kunstkino, besonders was seine betont ruhige, melancholische und nachdenkliche Erzählweise angeht.

Den Auftakt gestaltet Kapadia wie einen Dokumentarfilm: Aufnahmen zeigen die Menschenmassen, die sich im abendlichen Mumbai auf den Straßen, in den Bahnen, auf den Märkten drängen. Es ist eine bunte, überfordernde Mischung aus Gesichtern, Leibern und Geräuschen. Aus dem Off hört man dazu Stimmen, die erzählen, wie es war, aus dem Dorf in diese Stadt zu kommen. „Ich war schwanger und konnte es keinem erzählen“. Oder: „Ich hatte eine Trennung hinter mir, die Stadt hat mir geholfen, darüber hinwegzukommen“. Von jeder Familie vom Dorf sei mindestens ein Mitglied in die Stadt gezogen, denn hier gäbe es Arbeit und Geld.

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Das setzt den Rahmen für die Handlung, in der es um drei Frauen geht, die diesen Weg vom Dorf in die Stadt zu unterschiedlichen Zeiten hinter sich brachten, aber nun gemeinsam in einem Krankenhaus arbeiten. Der Fokus liegt auf der stillen Prabha (Kani Kusruti), die es zur Pflegedienstleiterin gebracht hat. Ihr Ehemann ging vor Jahren zum Arbeiten nach Deutschland und meldete sich irgendwann einfach nicht mehr. So fühlt sie sich in der Schwebe zwischen einer Tradition, die sie bindet, und der lockenden Möglichkeit, sich loszusagen.

Jede Frau entdeckt auf ihre Weise ein Stück Freiheit

Als Mitbewohnerin hat sie sich die jüngere Schwesternhilfe Anu (Divya Prabha) ins Haus geholt, die heimlich mit einem Moslem ausgeht, während im Dorf ihre Eltern ihr einen passenden Hindu-Ehemann aussuchen. Prabha fühlt sich für sie verantwortlich, genauso wie für die ältere, verwitwete Parvati (Chhaya Kadam), die als Köchin im Krankenhaus arbeitet und vom Gentrifizierungsprozess aus ihrer alten Wohnung verdrängt wird.

Parvati kehrt schließlich in ihr Dorf zurück. Prabha und Anu helfen ihr beim Umzug. Dort am Meer, wie erlöst von den drängenden Massen der Großstadt, entdecken die Frauen jede auf ihre Weise ein Stück private Freiheit, und sei es auch nur temporär. Selten gab es einen so tiefen und dabei empathischen Einblick in die indische Gesellschaft und das, was dort die Frauen fühlen.

Drama, F/Indien/Lux/2024, 123 min., von Payal Kapadia, mit Kani Kusruti, Divya Prabha, Chhaya Kadam, Hridhu Haroon