Düsseldorf. Dem israelischen Autor und Denker wird an diesem Samstag der Heinrich-Heine-Preis verliehen. Der Tod seines Sohns verfolgt ihn immer noch.

Der israelische Schriftsteller und Friedensaktivist David Grossman hat am Samstagabend den mit 50.000 Euro dotierten Heine-Preis der Stadt Düsseldorf im dortigen Schauspielhaus erhalten. „Der Wunsch, ja der Drang, einen anderen Menschen von innen heraus zu verstehen, ist für mich die Quintessenz der Literatur – sowohl des Lesens als auch des Schreibens“, bekannte Grossman. Er hat diesen Impuls auch unter den widrigsten Umständen nie verloren.

Es ist bereit 18 Jahre her, dass Grossman seinen Sohn Uri im Libanon verloren hat, als eine feindliche Rakete dessen Panzer traf. Und doch wird Grossmans Stimme immer noch brüchig, wenn er diesen Einschnitt in sein Leben erwähnt. Wie damals, als er nach der Schiwa, der jüdischen Trauerzeit von sieben Tagen nach der Beerdigung, erst eine Viertelstunde, dann eine halbe und schließlich eine ganze Stunde wieder schreiben konnte. Weiterschreiben an dem Roman „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“, der ausgerechnet um die Angst kreist, sein Kind im Krieg zu verlieren. Am Ende dachte Grossman jedoch: „Wie glücklich ich bin als Autor. Man findet, erfindet eine andere Welt, die einem das Überleben in der wirklichen Welt ermöglicht.“ Er erzählt das, um zu erklären, wie er sich nach dem 7. Oktober 2023 gefühlt habe. Es war ein ähnlich tiefer, schmerzhafter Einschnitt. Noch heute ist er fassungslos darüber, was Menschen anderen Menschen antun können.

David Grossman gehört zu den Stimmen der Vernunft in Israel, wie Amos Oz, Yoram Kaniuk oder Joshua Sobol

Grossman sagt das in der Bibliothek des Düsseldorfer Heine-Instituts am 227. Geburtstag von Heinrich Heine, am Vortag der Preisverleihung. Heine war ja mindestens ebenso sehr ein politischer Autor, Humanist, Journalist. David Grossman hat seine Schreibkarriere als Journalist begonnen, Anfang der 70er-Jahre beim staatlichen Radio „Kol Israel“. 1983 erschien sein erster, viel gerühmter Roman „Das Lächeln des Lammes“. Schon damals machte er sich als Friedensaktivist einen Namen, versuchte sich jahrzehntelang als Brückenbauer zwischen Palästinensern und Israelis. Er gilt seither als Stimme der Vernunft – im Ausland mehr noch als in Israel, wo auch Autoren wie Amos Oz, Yoram Kaniuk oder Joshua Sobol manchen mehr noch als Nestbeschmutzer gelten. Auch da steht der neue Preisträger ganz in der Tradition Heinrich Heines.

David Grossman und seine Laudatorin Iris Berben bei der Verleihung des Marion-Dönhoff-Preises im Deutschen Schauspielhaus Hamburg am vergangenen Sonntag.
David Grossman und seine Laudatorin Iris Berben bei der Verleihung des Marion-Dönhoff-Preises im Deutschen Schauspielhaus Hamburg am vergangenen Sonntag. © dpa | Jonas Walzberg

In Deutschland ist Grossman nicht zuletzt deshalb so angesehen, weil er das Unrecht der israelischen Besatzung, das Leid der Palästinenser stets gesehen hat, ohne den Terror von PLO bis Hamas zu entschuldigen. Dieser schmächtige, kleine Mann mit der großen Sorgfalt des Denkens hat schon mehrere politische Häutungen hinter sich, er wuchs in einer linken Wohngemeinschaft mit 18 Familien auf, machte später einen Schwenk nach rechts. Und wieder zurück, zu einem völlig undogmatischen Denker. Vielleicht liegt darin seine stärkste Fähigkeit begründet: „Wir müssen lernen, uns mit den Augen unserer Feinde zu sehen“, sagt er: „Der Feind sieht alles an uns, unsere Fehler und wie wir uns selbst betrügen.“ Schon Heine wusste, dass ein Kluger alles bemerkt und ein Dummer nur Bemerkungen macht.

Mit seinem dialektischen Denken wurde Grossman zu einem der israelischen Lieblingsautoren in Deutschland. Schon 2010 ehrte ihn der Börsenverein des Deutschen Buchhandels mit seinem renommierten Friedenspreis – und es ist noch keine Woche her, dass er im Deutschen Schauspielhaus zu Hamburg mit dem Marion-Dönhoff-Preis für internationale Verständigung und Versöhnung ausgezeichnet wurde, Iris Berben lobte an ihm: „Es gibt etwas, das David Grossman nicht tut. Und das ist schweigen“.

Wie David Grossman das Herz seiner Freundin (wieder-)gewann

Als Schriftsteller versenkt sich der so vielfach Ausgezeichnete abgrundtief in die Seelen seiner Figuren, er erkundet sie bis in entlegenste Winkel, er erfindet ganze Menschen mit all den Brüchen und Wiedersprüchen, die sie erst vollständig machen. Einst wusste Grossman nicht mehr ein noch aus, nachdem sich seine Freundin von ihm getrennt hatte. Er schrieb eine herzbewegende Geschichte für sie. „Sie las sie, kam zu mir zurück und sagte, die Geschichte sei unwiderstehlich.“ Heute ist er ein halbes Jahrhundert mit ihr verheiratet. Und als David Grossman da an der Seite des Düsseldorfer Oberbürgermeisters Stephan Keller (CDU) zum Gespräch mit der Presse schreitet, berührt er seine Frau Michal kurz auf der Schulter, als suche er auf zärtliche Weise ein wenig Halt und Sicherheit.

David Grossman: Wir sind gut im Kämpfen, wissen aber nicht, wie man Frieden macht“

„Shalom and good morning“, sagt er als erstes, und stellt fest, dass er Bibliotheken wie die des Heine-Instituts, aber auch Kunstausstellungen, die er besucht, ihm das Gefühl von Schutz und Heimat geben, auch in Düsseldorf. Hier hat er schon die kostbare, hochempfindliche, in einem sicheren Depot gelagerte Handschrift der „Loreley“ bewundern dürfen, wie er denn überhaupt Heine als integren Charakter schätzt: „Er war er selbst. Er hat sich nicht beirren, nicht manipulieren lassen.“ Man muss nicht allzu viel spekulieren, um auf die Idee zu kommen, dass der 23. Heine-Preisträger (darunter auch Carl Zuckmayer, Sebastian Haffner, Walter Jens, Max Frisch, Wolf Biermann, Hans Magnus Enzensberger und Jürgen Habermas) diese Eigenschaft auch an sich selbst zu schätzen weiß.

Verleihung Heine-Preis 2024
Autorin Carolin Emcke hielt bei der Verleihung des Heine-Preises 2024 die Laudatio für den Preisträger Grossmann. © DPA Images | Henning Kaiser

Der scharfe Kritiker Benjamin Netanyahus wirft dem Politiker vor, jenen Hass geschürt zu haben, der zum 7. Oktober führte. Allerdings sei man da auch aus allen Lügen und Selbsttäuschungen über die Palästinenser herausgeholt worden: „Wir werden sicherlich nicht so bald Hand in Hand in den Sonnenuntergang gehen!“ Aber er weiß auch: „Wir sind gut im Kämpfen, aber wir wissen nicht, wie man Frieden macht“.

David Grossman: Wir brauchen andere, neue Narrative

Es komme jetzt darauf an, die alten Geschichten mit neuen Worten, anders zu erzählen. Für alle Menschen, die das Gefühl beschleicht, nicht das Leben zu führen, das sie eigentlich gerne hätten. Geschichten, da beruft er sich auf den amerikanischen Poeten Robert Frost, von der Straße, gegen die man sich entschieden hatte: „Und plötzlich verstehen wir, wer wir hätten sein können. Was wir alles hätten tun können!“ Da klingt er wie ein Romantiker, der Heine ja auch war: „In diesen Geschichten gehören wir zu etwas, das wir vergessen haben.“

Auch viele Völker und Nationen seien oft in den Geschichten – heute heißt das ja: in den „Narrativen“ – gefangen, die sie sich über sich selbst seit Jahrzehnten erzählen. Das zu irritieren, „die andere Geschichte, neue Geschichten zu erzählen“, darin, sagt Grossman, liege die Kraft der Literatur: „Sie können uns das Gefühl geben, nicht auf ewig in einer Falle zu stecken.“ Er hält auch den Umsturz in Syrien für eine Chance, „die alte Geschichte neu zu erzählen, aus diesem Zirkel von Hass und Misstrauen herauszukommen“.