Hagen. Liebe und Trost: Klassische Weihnachtslieder sind Hunderte Jahre alt. Warum kommen sie nicht aus der Mode? Und helfen sie uns heute?

Die Welt versinkt in Krieg und Gewalt. Neue Seuchen brechen aus. Missernten, Überschwemmungen und Unwetter plagen die Menschen. Der Nachbar hasst den Nachbarn; sogar Familien zerbrechen an Verleumdungen und Zwietracht. Kommt Ihnen diese Situation bekannt vor? Sie spiegelt nicht das Heute, sondern die Umstände, unter denen die bekanntesten Weihnachtslieder geschaffen wurden. Diese Lieder sind entstanden, weil nichts anderes mehr zu trösten vermochte. Singen gegen die Angst, das wünschen wir uns heute ebenfalls.

Stille Nacht Autograph
Eine handschriftliche Fassung von Stille Nacht durch den Textautor Joseph Mohr. Das Manuskript ist vermutlich zwischen 1820 und 1825 entstanden; unter dem Titel: „Weynachts Lied“, D-Dur, 6/8-Takt, für zwei Singstimmen, mit Gitarrebegleitung; sechs Strophen“. Es befindet sich im Salzburg Museum der Stadt Salzburg und wird auf der Internetseite der Stille-Nacht-Gesellschaft geteilt. © Museum Stadt Salzburg / Stille Nacht Gesellschaft | Museum Stadt Salzburg / Stille Nacht Gesellschaft

Das bekannteste aller Weihnachtslieder, „Stille Nacht“, ist über 200 Jahre alt, und „Zu Bethlehem geboren“ wurde vor fast 400 Jahren geschrieben, beide in existenziellen Krisensituationen. Sind sie deshalb nie aus der Mode gekommen? Weil sie immer noch gebraucht werden? Wohnt klassischen Weihnachtsliedern eine Resilienz inne, die uns angesichts der Katastrophen unserer Zeit stärken kann?

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Für viele Menschen gehört „Stille Nacht“ zu Weihnachten wie Spekulatius, Glühwein und Tannenduft. Mit diesem Lied sind besonders viele Emotionen verbunden, sein Klang führt zurück in die Kindheit, als man beschützt von Vater und Mutter angstfrei das Glück der Weihnacht genießen konnte. Die Urgroßeltern-Generation verbindet mit „Stille Nacht“ häufig besondere Weihnachtserlebnisse angesichts von Krieg, Flucht, Vertreibung und Gefangenschaft. Und noch eine Generation zurück, erinnerten sich inzwischen gestorbene frühere Soldaten daran, wie Heiligabend die Kanonen schwiegen und die Feinde über die Schützengräben des Ersten Weltkrieges hinweg gemeinsam die Befehle ihrer Offiziere missachteten und zusammen „Stille Nacht“ anstimmten, der berühmte Weihnachtsfrieden von 1914.

„ Stille Nacht, heilige Nacht! Hirten erst kundgemacht
Durch der Engel Halleluja, Tönt es laut von fern und nah:
Christus, der Retter, ist da! Christus, der Retter ist da!“

Letzte Strophe von „Stille Nacht“

Weihnachtslieder taugen nicht für nationalistische und chauvinistische Propaganda. „Stille Nacht“ wird in über 300 Sprachen und Dialekten gesungen, es gehört allen Völkern gemeinsam, es ist ein Wiegenlied für die ganze Welt.

Vom Verschwinden bedroht

„Stille Nacht“ ist Weltkulturerbe. Dieser Titel ist mit Vorsicht zu genießen, denn Weltkulturerbe wird in der Regel nur, was vom Verschwinden bedroht ist. Die heute 60-Jährigen sind vermutlich die letzte Generation in Deutschland, die noch aktiv in der Schule Weihnachtslieder gesungen hat. Für heutige Kinder ist „Stille Nacht“ überwiegend Weihnachtsfolklore, eine Melodie, die auf dem Weihnachtsmarkt aus dem Lautsprecher tönt; diese Generation wird vermutlich keine Tränen der Rührung aus den Augenwinkeln tupfen, wenn Heiligabend im Gottesdienst alle zusammen „Schlafe in himmlischer Ruh‘“ anstimmen.

Aber vielleicht wird es genau anders. Denn „Stille Nacht“ hat nicht nur zwei Weltkriege und zwei Revolutionen überlebt, sondern auch den Kulturkampf der Nationalsozialisten, die das bekannteste aller Weihnachtslieder für ihre Propaganda instrumentalisieren wollten. „Alles schläft, einsam wacht/unser Führer für deutsches Land“, heißt es in einer Umdichtung des Liedes aus der NS-Zeit. Sie hat sich nicht durchgesetzt. Die Erfindung der Pop-und Rockmusik konnte „Stille Nacht“ ebenfalls nicht das Rückgrat brechen; es gibt Metal- und Punk-Cover, und sollten diese auch satirisch gemeint sein, so umhüllt der Zauber des Liedes doch jede Ironie mit Wohlwollen.

„In seine Lieb’ versenken will ich mich ganz hinab; mein Herz will ich ihm schenken und alles, was ich hab’, eia, eia, und alles, was ich hab’.“

Zu Bethlehem geboren, 2. Strophe

Was war los an Weihnachten 1818 in der Kirche St. Nikola in Oberndorf bei Salzburg, wo der Hilfspfarrer Joseph Mohr und der Schulmeister Franz Xaver Gruber in der Christmette erstmals ein neues Lied vorstellten? Die Region litt nach den Napoleonischen Kriegen an wirtschaftlicher Auszehrung, die Menschen hungerten. Außerdem war 1815 der Vulkan Tambora in Indonesien ausgebrochen und hatte so viel Staub und Asche in die Atmosphäre geschleudert, dass 1816 selbst in Europa zum Jahr ohne Sommer wurde, mit Missernten oder sogar totalen Ernteausfällen. Schwere Unwetter und Überschwemmungen brachten nach dem Vulkanausbruch Elend über Europa, in den höheren Lagen Mitteleuropas schneite es das ganze Jahr über. Die Folgen dieser Katastrophen verschärften die Lage der Bevölkerung, ohne dass diese sich erklären konnte, warum das Wetter verrückt spielte.

Das Wetter spielt verrückt

„Stille Nacht“, im typischen Rhythmus eines Wiegenliedes vertont, konnte mit seinem schlichten, für jeden verständlichen Text Hoffnung und Wärme keimen lassen. Ein Kind wird geboren, und die Gemeinde singt ihm ein Schlaflied. Ein neues Leben beginnt, das allein ist Grund zur Freude, auch für jene, die nicht christlich sind, und für die Weihnachten nicht der Gottessohn das Licht in die Welt bringt. Jedes Kind, das an jedem Ort dieser Welt an jedem Tag des Jahres geboren wird, trägt den Funken des Göttlichen in sich. Deshalb berührt „Stille Nacht“ bis heute die Herzen.

Auch „O du fröhliche“ setzt die Weihnachtshoffnung gegen furchtbare Schicksalsschläge. Zwei Jahre früher als Stille Nacht entstanden, hatten die Napoleonischen Kriege und das Jahr ohne Sommer die Stadt Weimar ebenfalls getroffen. Viele Kinder wurden zu Waisen, und es gab damals keinerlei Fürsorge für diese Jungen und Mädchen, ob sie lebten oder starben, war der Gesellschaft egal. Mit dem Krieg waren die Seuchen gekommen; der Schriftsteller Johannes Daniel Falk (1768-1826) verlor vier eigene Kinder durch den Typhus.

Falk und seine Frau erkannten tatsächlich die soziale Lage der durch den Krieg heimatlos gewordenen Kinder und sie kümmerten sich. Er gab seine publizistische Tätigkeit auf und widmete seine Zeit fortan den Waisen. Falk wurde zum Begründer der Jugendsozialarbeit und der protestantischen Rettungshausbewegung. 30 traumatisierte Kinder nahmen Falk und seine Frau in ihre eigene Wohnung auf. Ihnen schenkte er das Lied „O du fröhliche“, neu getextet auf die Melodie eines Marienliedes. „Welt ging verloren, Christ ist geboren“, diese Botschaft ist bis heute aktuell und tröstlich.

Noch viel entsetzlicher war die Situation hingegen in jener Epoche, in der „Zu Bethlehem geboren“ entstand. Der 30-jährige Krieg (1618–1648) hatte auch Westfalen und das Rheinland völlig verwüstet, es gab nichts mehr zu essen, die Soldaten brachten die Pest mit, das meteorologische Phänomen einer kleinen Eiszeit sorgte für Missernten und Viehsterben, und die Menschen verrohten ganz und gar. Sie beschuldigten einander der Hexerei. Selbst Eltern zeigte ihre Kinder an und Freunde denunzierten sich gegenseitig. Die Scheiterhaufen loderten. Der Jesuitenpater Friedrich Spee (1591-1635) begriff als einer der ersten, dass die ganzen Hexen und Hexer zu Unrecht beschuldigt wurden, dass die Hexenverfolgung in Wahrheit ein Wahn war und nicht gottgewollt. Für seine Kritik an den Hexenprozessen wurde er von seiner Professur in Paderborn verjagt und nach Trier in die Krankenhausseelsorge strafversetzt. Dort verfasste er ein wunderschönes Liederbuch. Bittere Protestlieder stehen darin, aber eben auch „Zu Bethlehem geboren“.

„O du fröhliche, o du selige,
gnadenbringende Weihnachtszeit!
Welt ging verloren, Christ ist geboren:
Freue, freue dich, o Christenheit!“

O du fröhliche, 1. Strophe

Mitten in den Hass- und Gewaltorgien seiner Zeit schreibt also ein einsamer Mönch ein Wiegenlied für das Christuskind, ein Lied, so schlicht, privat und innig, dass es die ganze Außenwelt ausblenden kann. Es geht um Liebe in diesem Lied und um die Hoffnung, dass die Liebe zum neugeborenen Kind tatsächlich das Dunkel der Zeit erhellen kann. „Zu Bethlehem geboren“ ist kein Kampflied. Es ist eher ein Gebet oder eine kleine Meditation, eine Selbstermächtigung, wie man heute sagen würde. Und in diesem Lied erkennen alle Singenden, dass sie nicht nur ohnmächtig den Schrecken der Gegenwart ausgeliefert sind.

„Mein Herz will ich ihm schenken“, heißt es im Text. Auch in der finstersten Zeit ist die Liebe möglich. Und wer in der Freude über das Weihnachtswunder die Liebe gegen den Hass tauscht, der kann die Welt verändern. Das ist die Botschaft der Weihnachtslieder bis heute.

Als „Zu Bethlehem geboren“ 1638 erstmals in einem Kölner Gesangbuch veröffentlicht wurde, war Friedrich Spee schon drei Jahre tot. Er hatte sich bei der Pflege kranker Soldaten selbst mit der Pest angesteckt und starb 1635 im Alter von nur 44 Jahren.