Mülheim. Philipp Preuss inszeniert 105 Minuten Kleist im Theater an der Ruhr. Die Regie kreist um Kolonialismus. Unsere aktuelle Premieren-Kritik.
Man hat es gelegentlich vergessen über die beschränkten Mägde namens Liese und Grete, über die Hühner in der Amtsstube, über die aus den Fugen geratene Welt von Schuld und Sühne, aber die größte Komödie der deutschen Literatur spielt: in unserem Nachbarland. Und nun legt Philipp Preuss den wohl niederländischsten „Zerbrochnen Krug“ vor, den eine deutsche Bühne je sah.
Philipp Preuss inszeniert in Mülheim „Der zerbrochne Krug“
Damit meinen wir nicht den (wenn auch hinreißend satansgläubigen) Kronzeugen-Auftritt der schrulligen Frau Brigitte. Dagmar Geppert gibt sie komplett „in het Nederlands“ und doch verdolmetscht das glasklare Spiel dieser hohlwangigen Geisterseherin uns Silbe für Silbe: Kleist.
Ja, Mülheim spielt Kleist. Vermutlich ist das nur der Anfang in unserer Theaterlandschaft, denn dieser „Krug“, das bibelsymbolsatte Enthüllungsstück um einen Täter im Gewand des Provinzrichters Adam (sein Opfer heißt Eve!) ist jetzt wieder Abiturstoff.
Philipp Preuss lädt das Lustspiel weltpolitisch auf. Wo Heinrich von Kleist einst auf ein verkommenes Nest bei Utrecht blickte, uns die zum Himmel stinkende Fäulnis der Gerichtsbarkeit en miniature unter die Nase zu reiben, erzählt Preuss mehr als nebenbei von einer ganzen Welt in Scherben.
Kolonialismus als Thema in Kleists „Zerbrochnem Krug“
Über einen Nebenstrang zündet er die Lunte für seine explosive Lesart. Denn wenn auf den Gazevorhang im Theater an der Ruhr immer wieder Teeplantagen und Unterdrückte auf den Gewürz- und Tabakfeldern vorbeiziehen, dann werden mit „Douwe Egberts“ und „Javaanse Jongens“ auch die traditionsreichen Marken-Profiteure der einst so mächtigen Handelsmacht Niederlande eingeblendet.
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Kolonialismus-Kritik, gibt das der Text her? Er gibt. Denn Adams Druckmittel, Eve von einer Aussage gegen ihn als übergriffigen Lüstling abzuhalten, ist eine Freistellung ihres künftigen Mannes Ruprecht von der Einberufung Richtung Indonesien. Kleists Eve klagt an: „Gestohlen ist dem Land die schöne Jugend, um Pfeffer und Muskaten einzuhandeln“. Was das ist? „Raub zum Heil der Haager Krämer...“
Da ist es nur schlüssig, wenn Eva Karobaths Kostüme das Personal mit den stolzen, wagenradgroßen Halskrausen des „Goldenen Zeitalters“ ausstatten. Ein kleiner Staat in Europa, der ganze Länder in den Würgegriff des Kapitals nimmt. Ein Krug (der zu Bruch geht, als Adam bei Eve fensterlt) ist als Symbol dafür viel zu wenig. Vielleicht sieht man den tönernen Titelhelden in Preuss’ Inszenierung deshalb kein einziges Mal.
So hat Chefanklägerin Marthe Rull (Gabriella Weber, eher auf Kriegsfuß mit Kleists feinem Blankvers-Florett) es schwer, das Gefäß nur zu imaginieren. Und Preuss’ Regie hilft hier nicht, im Gegenteil verzettelt er sich ideenverliebt am Text vorbei.
Aufs Ganze aber schnurrt in pausenlosen 105 Minuten hier ein sehr sprachbewusstes Kammerspiel ab. Es regiert wenig Komödie, das muss man leider sagen. Aber zu bestaunen ist doch eine faszinierende Typenschau auf jener kahlen Bühne, deren silbriger Prospektvorhang (Bühne: Sara Aubrecht) mit „VOC“ der Vereinigten Ostindien-Kompanie huldigt. Was Preuss klar entgeht, ist die Chance der szenischen Eskalation, die bei Kleists auf dem Elfmeterpunkt liegt. Dafür ist hier ist alles viel zu früh entschieden, unrettbar kaputt, durchschaubar zumal.
Berauschende Schauspiel-Momente kompensieren in Mülheim diesen Mangel. Lange nicht hat man eine Eve von so erschütternder Intensität sehen dürfen: Marie Schulte-Wernings ganz aus innerer Not heraus erarbeitete Studie eines Missbrauchsopfers überwältigt. Die sonst wenig dankbare Rolle des Ruprecht wertet Joschua Zilinske extrem auf. Physisch ein wütender Rebell, doch die Sprache Kleists trägt er meisterhaft als Herz auf der Zunge.
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Felix Römers Dorfrichter Adam: Richter und Henker
Felix Römer gibt den Richter, der sein Henker ist. Es bittet zum Festspiel der Charakterfarben. Dieser Adam ist ausgebrannt und kaltschnäuzig, er ist naives Kind und Halbgott ohne Bodenhaftung, Verbrecher und Verführer. Seltsam: Er ist ein Kotzbrocken zum Liebhaben. Und singen tut er auch. Am Synthesizer sitzt, den ganzen Kleist-Abend mit Musik befeuernd, der Schreiber Licht. Ihn spielt Kornelius Heidenbrecht. Ein Mime der Sorte, die so wenig machen, um gut zu sein, dass man davon unbedingt mehr sehen möchte.
Langer Premierenapplaus.
Daten und Karten
Heinrich von Kleist: Der zerbrochne Krug. Ca. 105 Minuten, keine Pause. Im Theater an der Ruhr, Akazienallee 61, Mülheim.
Nächste Aufführungen: 9., 19. und 20. November. Im Dezember am 11. und 12., je 11 Uhr und 18 Uhr. Karten 23,50 €, erm. 10 €.
Auf der Website des Theaters können sich Interessierte reichlich Material zum Deutungsansatz der Neuinszenierung herunterladen: www.theater-an-der-ruhr.de