Essen. In seinem aktuellen Buch „Essen auf den zweiten Blick“ geleitet Robert Welzel zu verborgenen Schätzen und lüftet dabei manches Geheimnis.
Ein Kunstwerk mit Folgen: Kaum hatte Street Artist Gigo Propaganda die ersten Striche aufs geschichtsträchtige Mauerwerk der Apostel-Notkirche gebracht, kam auch schon die Polizei. Bei der Landeskirche ging eine Beschwerde wegen Verunstaltung des Gebäudes ein. „Kirchen-‚Anschlag‘ schlug wie Bombe ein“ titelte gar der Stadtspiegel. Dabei begleitete der Pfarrer höchstpersönlich das Wandbild als Kurator. Entstehen sollte ein „Gemeindeporträt“ wie es der Künstler bereits in 24 Städten verwirklicht hatte: Eine Sammlung von Kommentaren, die der Graffiti-Star vor Ort in Interviews ermittelte.
Dass das große Schriftgemälde („Ein Fest der Toleranz“, „Wer schaffen will, muss fröhlich sein“, „Wer genau hinschaut, erkennt noch die Spuren des Krieges“) bald wieder übertüncht wurde, war Teil des Konzepts – trotzdem bleibt die Episode aus 2015 in Essen-Frohnhausen lebendig. Zarte stilisierte Bäume, ebenfalls von Gigo, erinnern an der Fassade an die bunte Pracht dahinter. Wenn man genau hinguckt, sieht man Buchstaben durchschimmern.
Ein Platz mit Geschichte(n), einer von vielen. 27 hat der nebenberufliche Historiker Robert Welzel in einem neuen Freizeitführer gesammelt. „Essen auf den zweiten Blick“ geleitet zu geheimen oder wenig bekannten Orten. Ein lesenswertes Buch für Alteingesessene, Neuzugänge, Stadtbesucher und alle anderen, die gern im Ruhrgebiet auf Spurensuche gehen.
Welzel ist Vorstandsmitglied im Historischen Verein für Stadt und Stift Essen und forscht seit Jahrzehnten zur Geschichte. Sein Fachbereich ist die Architektur, hierzu hat er eine Reihe wissenschaftlicher Arbeiten verfasst, auch Stadtführer gehen auf sein Konto. Dass es ihm diesmal auch um historische Randnotizen und Nebenschauplätze geht, ergab sich aus einer Anregung des Verlags. Und Welzel hat gern Ja gesagt. „Viele Orte sind ja als touristische Ziele nicht geläufig.“ Die Gruga, Villa Hügel und Zeche Zollverein kennen die meisten. Aber wer weiß schon, was es mit dem „Schneckenreiter“ im Stadtteil Kray auf sich hat?
Am Ende hat Welzel so viele spannende Plätze in seiner Heimatstadt zusammengetragen, dass er eine strenge Auswahl treffen musste – und vermutlich einen weiteren Band bestücken könnte. Auch die meisten Bilder im Buch hat er selbst gemacht.
160 Seiten sind es geworden, sieben Kapitel spielen in der City, die übrigen in den Stadtteilen, von Altendorf bis Steele, von Kettwig bis Katernberg. Manchmal geht es um Menschen wie den Apotheker Franz-Wilhelm Flashoff (1771-1837), den fast vergessenen Erfinder der Gasbeleuchtung. Manchmal um versteckte Gebäude wie das Klarbach-Haus anno 1893, einst eine Kleiderfabrik modernster Bauweise. Heute verbirgt es sich im Theater-Komplex, der 1928/29 am heutigen Hirschlandplatz errichtet wurde.
Aber es geht auch um Liebe in den Jahren der Französischen Revolution. Und um finstere Zeiten, Nazi-Bauten im schmucken Kettwig. Welzels Lieblingskapitel bietet als Zugabe eine Wanderung durch das Ruhrtal. Sie führt von Steele zur Bochumer Stadtgrenze und passiert den verwunschenen Holteyer Hafen, wo früher Kohleschiffe überwintert haben. Am Wegesrand: eine Friedenskapelle, die ebenso gut im Alpenraum stehen könnte, schwärmt Welzel: „Essen kann auch romantisch sein.“
Und ein bisschen unheimlich, davon erzählt „Die Stadt der Toten“. In früheren Jahrhunderten dienten große Areale der City als Friedhöfe. So befand sich auf dem Burgplatz der allgemeine Begräbnisplatz. Dazu passt, dass unlängst bei Bauarbeiten auf dem Weberplatz Überreste von Särgen und Verstorbenen auftauchten. Das Gelände zwischen Kastanienallee und Kreuzeskirchstraße wurde zwischen 1623 und 1830 als evangelischer Friedhof genutzt. Damals war das Sterben für die Menschen natürlicher Bestandteil des Lebens, erinnert Welzel, im Alltag stets präsent: „Sie scherten sich nicht darum, dass es in der Altstadt Grabstätten gab.“ In der Marktkirche konnten wohlhabende Essener Bürger bis ins 19. Jahrhundert hinein einen Ort für die letzte Ruhe erwerben.
Oder der Gänsereiterbrunnen, ebenfalls Frohnhausen. Seine Geschichte handelt vom karnevalistischen Brauch des Gänsereitens, ein wenig zimperliches Unterfangen. Auf dem Pferderücken ging es unter einem Galgen her, wobei es galt, einer dort aufgehängten toten Gans den Kopf abzureißen. Der Gewinner wurde feierlich zum Gänsekönig ernannt. Als der Jugendstilbrunnen 1913 erbaut wurde, habe man ein heimatnahes Motiv gesucht, erinnert Welzel. Ursprünglich stellte eine Brunnen-Figur den Gänsereiter dar, diese ging jedoch im Zweiten Weltkrieg verloren.
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Und dann ist da noch das Amerikahaus Ruhr, heute Sitz des Stratmann-Theaters. Hier spielt die Geschichte vom keramischen Wandbild des Essener Bildhauers Herbert Lungwitz, das 1952 bei der Eröffnung des US-Kulturzentrums präsentiert wurde. Zwei Männer legen sich die Arme auf die Schultern, eine Frau lässt eine Taube fliegen. „Dahinter steht der Wunsch nach dauerhaftem Frieden durch Völkerverständigung“, so Welzel. Da passt es gut, dass ein naher Platz soeben zum „Friedensplatz“ getauft wurde. Manchmal schließt sich der Kreis.
Robert Welzel: „Essen auf den zweiten Blick. Der besondere Stadtführer zu den verborgenen Schätzen“. Klartext-Verlag, 160 Seiten, 18,95 Euro