Gelsenkirchen. Der Literaturpreis Ruhr geht an Necati Öziri. Der Autor fleht beinahe um mehr Einsatz für die Demokratie - und hat Sorge, dass es dafür fast zu spät ist.
Spätestens seit der Nominierung für den Deutschen Buchpreis im vergangenen Jahr gilt der in Datteln geborene Necati Öziri als eine der spannendsten Stimmen in der deutschen Literatur: Sein Roman „Vatermal“ wurde am Mittwochabend im Schloss Horst in Gelsenkirchen mit dem Literaturpreis Ruhr ausgezeichnet. Der mit 15.000 Euro dotierte Preis, ausgelobt vom Regionalverband Ruhr (RVR) und dem Literaturbüro Ruhr, gilt als wichtigste Auszeichnung für Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die im Ruhrgebiet leben oder über die Region schreiben.
Öziri, der als Sohn einer alleinerziehenden Mutter in Datteln aufwuchs, lebt zwar mittlerweile in Berlin, hat im Ruhrgebiet aber viele Spuren hinterlassen: Zuletzt interpretierte er Wagner völlig neu, indem er im Schauspiel Dortmund einen ganz neuen „Ring“ schmiedete. Für sein vielfältiges Engagement im Theater gilt dabei ebenso wie für Öziris Literatur: Er verquickt den Sound der Straße mit Hochkultur. „Vatermal“ sei ein Buch, „das man in vielen Jahren noch lesen wird“, urteilte die Jury. Öziri erzähle die Geschichte einer Einwandererfamilie auf „absolut mitreißende Weise“.
„Wir alle schulden es der Geschichte, dass sie sich nicht wiederholt.“
Seine Dankesrede nutzte Öziri am Mittwochabend auch, um die Grenzen von Literatur aufzuzeigen und das Publikum zum Handeln aufzurufen: „Wir alle schulden es der Geschichte, dass sie sich nicht wiederholt“, mahnte Öziri. Jeder und jede müsse sich jeden Tag fragen, was er tun kann, um die Demokratie zu retten. „Ganz gleich, ob ihr euch für ein AfD-Verbot einsetzt oder in Schulen für Demokratie werbt: Wir sind alle gefragt“, sagte Öziri.
„Wir alle kriegen mit, was gerade in diesem Land passiert“, sagte Öziri. Schon 2016 sei er in Frankfurt gefragt worden, wann eine demokratische Gesellschaft kippe. Seine Antwort damals: „Zu früh. Denn wenn man es merkt, ist es zu spät“, wiederholte er bei der Preisverleihung. Die nominierten Autorinnen und Autoren wollten allesamt gesellschaftlicher Verrohung entgegenwirken in ihren Geschichten. Literatur könne Fragen aufwerfen. Die Antworten aber müsse die Politik geben.
Miedya Mahmod erhält mit 5000 Euro dotierten Förderpreis
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Der 35-Jährige setzte sich damit gegen die drei Mitnominierten Dietlind Falk („No Regrets“), Sarah Jäger („Und die Welt, sie fliegt hoch“) und Sina Scherzant („Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne“) durch. Insgesamt standen 56 literarische Werke auf der Leseliste der Jury, der unter anderem Journalistin Cathrin Brackmann und Kabarettist Murat Kayı angehörten. Garrelt Duin, Regionaldirektor des Regionalverbands Ruhr (RVR), freute sich über eine „auffallend junge Bestenliste“. Obwohl die Autorinnen und Autoren noch nicht lange im Geschäft seien, zögen sie ihre Leser mit ihren Texten in den Bann.
Dazu zählt zweifelsohne auch Miedya Mahmod, die für ihr Langgedicht „Hinter vorgehaltener Zunge schweigen wir oder Die Destinationale“ den mit 5000 Euro dotierten Förderpreis erhielt. Wie Öziri gehört auch Mahmod zu den aufstrebenden jungen Stimmen der deutschen Literaturszene, las zuletzt auch beim renommierten Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt.
Mit ihr werde eine literarische Stimme ausgezeichnet, die nicht besser das Herz des Ruhrgebiets zum Ausdruck bringen könnte, sagte Jurymitglied Bozena Badura in ihrer Laudatio: „Gleichzeitig in vielen Sprachen verwurzelt, synchron multilingual, eine Stimme, die unter Einfluss vieler Kulturen zu sich selbst gefunden hat.“ Miedya Mahmod erfrischte das Pubklikum in Horst mit ihrer Ehrlichkeit: Auf die Frage, wofür sie ihr Preisgeld verwende, sagte sie: „Um ehrlich zu sein, brauche ich Zahnersatz.“
Ehrenpreis für „Ritter Rost“-Erfinder Jörg Hilbert
Eine nicht mehr ganz junge Stimme, die ihre „kindliche Sicht auf Menschen und Dinge“ aber nie verloren hat, kann sich über den Ehrenpreis freuen: Autor Jörg Hilbert, Erfinder der Kinderbuchfigur „Ritter Rost“, wurde mit einer Skulptur des Künstlers Peter Schloss ausgezeichnet. Damit würdigten RVR und Literaturbüro Ruhr die besonderen Verdienste des Autors um die Literatur im Ruhrgebiet.
Ritter Rost feiert in diesem Jahr bereits seinen 30. Geburtstag. Hilberts Wegbegleiter Felix Janosa, der unter anderem die Lieder zu den „Ritter Rost“-Geschichten schreibt und komponiert, sagte über den in Essen lebenden Autor: „Ein Teil seiner Persönlichkeit hat sich wahrscheinlich immer geweigert, erwachsen zu werden und ist im positivsten Sinne naiv: rotzfrech, mit starkem Selbstwert und mit einem scharfen Auge für alles, was schief, komisch und ungerecht in der Welt ist.“