Essen. Der Intendant der Ruhrtriennale gerät unter Druck. Es geht um Machtmissbrauch an dem Amsterdamer Theater, an dessen Spitze er stand.
Ein Theaterskandal in den Niederlanden wirft Schatten auf das Ruhrgebiet. Den neuen Chef der Ruhrtriennale, den Belgier Ivo Van Hove, holen Vorfälle aus seiner 22-jährigen Tätigkeit als künstlerischer Leiter des Internationaal Theater Amsterdam (ITA) ein.
Es geht um möglichen Machtmissbrauch und ein Klima der Angst, das im größten Theaterensemble der Niederlande geherrscht haben soll. Die Vorwürfe richten sich bisher nicht direkt gegen Van Hove, aber als langjähriger künstlerischer Kopf des Hauses steht auch er im Zentrum der Aufarbeitung.
Theaterkrise in Holland setzt Ruhrtriennale-Intendanten Ivo Van Hove unter Druck
An Van Hoves künstlerischem Renommee herrschte 2022 kein Zweifel, als der Aufsichtsrat der Kultur Ruhr GmbH ihn einstimmig berief: als „großen Gewinn für die Ruhrtriennale und damit für die Kultur in Nordrhein-Westfalen insgesamt“.
Im letzten Herbst dann sorgten die Aussagen der flämischen Schauspielerin Hélène Devos für ein Beben in der Kulturszene der Niederlande. Ihre Anklage betraf keine konkrete Person. Umso deutlicher allerdings die Vorwürfe, die sie auf Instagram äußerte: Sie sei am ITA über Jahre Opfer von „körperlichem und seelischem Missbrauch“ gewesen. Das Theater reagierte auffallend schnell. Van Hoves Nachfolgerin, die 38-jährige Regisseurin Eline Arbo, berief eine außenstehende Untersuchungskommission ein, die möglichen Vergehen (alle Vorwürfe handelten ausdrücklich nicht von sexuellen Übergriffen) auf den Grund gehen sollte.
NRW-Kulturministerium fordert von Ivo Van Hove Mitarbeit, „transparent aufzuklären“
Jetzt ist der Bericht fertig. Er ist das Ergebnis akribischer Befragungen von aktuellen und ehemaligen Ensemblemitgliedern des ITA und liegt unserer Redaktion vor. Die Studie ist sehr differenziert, sehr gewissenhaft. Aber sie lässt (auch wenn große Teile des Ensembles sich wohlwollend über ihre Arbeitsbedingungen äußern) wenig Zweifel an erheblichen Versäumnissen.
Untersuchung über das Internationaal Theater Amsterdam: Ergebnisse schmerzhaft und für alle Beteiligten belastend
Clayde Menso, „General Manager“ am ITA, nennt die Schlussfolgerungen der Untersuchung „schmerzhaft und für alle Beteiligten belastend“ und sagt weiter: „Unsere Gedanken sind bei den Betroffenen, und wir haben großen Respekt vor dem Mut der Beteiligten an den Ermittlungen.“ Über ein Viertel der befragten Mitarbeiter (27 Prozent) fühlten sich in ihrem Handeln am Theater demnach nicht sicher. Unter den ehemaligen Mitarbeitern waren es mit 63 Prozent weit mehr als doppelt so viel. Der Tenor: Die Atmosphäre innerhalb des Theaters war aus ihrer Sicht von Angst und Vertuschung geprägt. Im Zentrum: Einschüchterung, Machtmissbrauch und verbale Gewalt.
Betroffene am Internationaal Theater Amsterdam beklagen ein Klima der Angst
Die belgische Tageszeitung „Het Laatste Nieuws“ zitiert einen Schauspieler mit der „Angst, dass ich beim nächsten Stück keine Rolle bekommen würde“ für den Fall, dass er sich kritisch geäußert hätte. Er beklagt ein „Abhängigkeitsverhältnis“. Ein anderes Ensemblemitglied spricht im gleichen Bericht über das Sich-Nackt-Ausziehen auf der Bühne auf Wunsch des Regisseurs – und die Unmöglichkeit, es abzulehnen: „Ein Nein war keine Option.“
Das ITA geht offensiv mit den hässlichen Einsichten um. Alle Empfehlungen der Untersuchungskommission will man dort komplett befolgen. Diese fordert kaum weniger als einen radikalen Wandel der Unternehmenskultur. Das Theater als angstfreier Raum, als Ort, der offene Kritik über alle Hierarchien hinweg zulässt, und vieles mehr.
Was aber hat Ivo Van Hove damit zu tun? Er war künstlerischer Kopf des Hauses, sein Amt entsprach dem eines deutschen Intendanten. Wer, wenn nicht der Kulturunternehmer Van Hove stand für die Unternehmenskultur? Über seinen Tisch gingen zentrale Entscheidungen. Schauspielerpersonalien, die Engagements gastierender Regisseure, Bühnenbildner etc.: Letztlich lag die Verantwortung für das Ensemble bei ihm.
Was die Ergebnisse der Befragung anbetrifft, lässt das mehrere Lesarten zu. Einige Möglichkeiten: Er hat von all dem nichts gewusst. Er hat es gewusst, aber nicht ernst genommen. Er hat es gewusst, aber die Ziele der Kunst über die individuelle menschliche Krise gestellt.
Sehr vorsichtige Stellungnahme Ivo Van Hoves
Unsere Redaktion bot Ivo Van Hove, der in rund drei Wochen seine erste Ruhrtriennale eröffnet, Gelegenheit zur Stellungnahme. Diese ist von Bedauern geprägt, doch äußerst vorsichtig formuliert. Als konkret Beteiligten lässt sie den Theaterleiter kaum erscheinen, Van Hove scheint den Fehler im System zu sehen: „Das Ergebnis der Untersuchungen (...) zur Organisationskultur und zum grenzüberschreitenden Verhalten beim ITA hat mich zutiefst betroffen gemacht. Die Autoren der Mitarbeitendenbefragung schreiben, die Betriebskultur innerhalb des ITA sei nicht genügend sicher und inklusiv gewesen. Es schmerzt mich zu sehen, dass sich Menschen mit derselben Leidenschaft für Theater von der Kultur des Hauses verletzt fühlen. Es wäre wünschenswert, nun die strukturellen Ursachen zu erforschen und weitere Beteiligte zu Wort kommen zu lassen. Sowohl die beiden anderen Direktoren, mit denen ich während meiner Zeit beim ITA gemeinsam für die Betriebsführung verantwortlich war, als auch andere Führungskräfte und betroffene Personen. Selbstverständlich würde ich an einer solchen Untersuchung mitarbeiten.“
Unser darauffolgendes Angebot eines zeitnahen, ausführlichen Interviews „zum Thema Kultur des Umgangs in Kulturinstitutionen im Allgemeinen und zu möglichen Verfehlungen auf Führungsebenen im ITA“ wurde von Van Hove abgelehnt: Seiner Stellungnahme sei „aktuell nichts hinzuzufügen“.
NRW-Kulturministerium hat Kenntnis von den Missständen an Van Hoves ehemaliger Wirkungsstätte
Die Ruhrtriennale ist ein Kind des Landes NRW. Das Landes-Kulturministerium bestätigt auf unsere Anfrage die Kenntnis der Umfrage zu den Missständen an Van Hoves langjähriger Wirkungsstätte. Ein Sprecher sagte, der Intendant habe dem Ministerium gegenüber versichert, an einer strukturellen Untersuchung, die alle Beteiligten zu Wort kommen lässt, mitzuarbeiten, „um die Vorwürfe transparent aufzuklären“.
Hélène Devos, die Schauspielerin, die den Stein im September 2023 ins Rollen gebracht hat, hat sich bis zum Redaktionsschluss nicht auf unsere Bitte zu einem aktuellen Statement gemeldet. Auf Ihrem Instagram-Kanal hat sie einen Spruch fotografiert, der Betrachtern aus einem dunklen Wald entgegenleuchtet: „Manchmal tun die Leute so, als wärst du ein schlechter Mensch, damit sie sich nicht schuldig dafür fühlen, wie sie dich behandelt haben.“