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Das Jahrzehnt neigt sich dem Ende entgegen, es hatte viele schöne Seiten. Aber welche waren die allerschönsten? Wir stellen die zehn besten Bücher aus zehn Jahren vor – und dann noch zehn, die auch ganz toll sind.
Zehn? Nur zehn? Das geht natürlich gar nicht! Da aber in der Reduktion der Spaß dieser Top-Ten-Listen liegt, wollen wir ihn mal nicht verderben … und überlegen, welche zehn Bücher die besten des Jahrzehnts wären.
Schaut man sich die Bestseller-Listen von 2001 bis 2010 an, scheint der Publikumsgeschmack ohnehin millionenfach identisch: Harry und der verschwörerische Dan belegen meist die besten Plätze. Der Onlinebuchhändler Libri.de hat zum Beispiel seine bestverkauften Bücher des Jahrzehnts gelistet. Wollen Sie das wirklich wissen? Na gut. 1. Joanne K. Rowling: Harry Potter und die Heiligtümer des Todes. 2. Joanne K. Rowling: Harry Potter and the Deathly Hallows. 3. Dan Brown: Sakrileg. 4. Henning Mankell: Die fünfte Frau. 5. Charlotte Roche: Feuchtgebiete. 6. J.K. Rowling: Harry Potter und der Halbblutprinz 7. Bastian Sick: Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod 8. J.K. Rowling: Die Märchen von Beedle dem Barden 9. Dan Brown: Illuminati 10. J.K. Rowling: Harry Potter und der Orden des Phönix
Platz 11: Harry Potter und das Geheimnis des Verkaufserfolgs. Wie zauberhaft. Aber man soll ja Bestseller- nicht mit Besten-Listen verwechseln, auch wenn die Potter-Bände wirklich spannend und gut gemacht sind.
Da jede Auswahl eine persönliche ist, können wir das auch gleich zum Prinzip erklären. Ein Blick ins Bücherregal also. Paul Auster steht da ganz am Anfang, allerdings schrieb er seine besten Werke auch am Anfang meiner Lese- und Studentenzeit. Also vor gefühlten drei Millionen Jahren. Aber vielleicht könnte doch der letzte Titel, „Unsichtbar“, für die exklusive Liste taugen? Und kann man die wunderbare Alice Munro aufnehmen, obwohl sie nur kurze Prosa schrieb? Welcher der vielen süffigen Murakami-Romane handelte noch mal genau wovon? Welche meiner drei deutschen Lieblings-Autorinnen – Katharina Hacker, Julia Franck, Judith Hermann – ist nun wirklich die Beste?
Die erste Wahl
Achtung, einmal zurücklehnen. Schließlich: Es werden ja nicht alle Bücher, die nicht auf dieser einen Liste stehen, wie von Zauberhand vernichtet. Das hier soll (auch) lustig sein, Gelegenheit zum Ein- und Widerspruch geben. Also stelle ich eine persönlich gefärbte Liste der zehn wichtigsten literarischen Werke des Jahrzehnts hiermit zur Diskussion:
1. Jonathan Franzen: Die Korrekturen (2002) – weil alles über Familien drinsteht, was man wissen muss. Die Handlung: Enid möchte Weihnachten feiern. Ihre drei erwachsenen Kinder sind aus dem Haus, ihr Ehemann Alfred ist schwer krank. Fünf Menschen begleitet Franzen über 700 Seiten lang, ein Panorama in der Erzähltradition des 19. Jahrhunderts. Der Mythos der Familie westlicher Prägung, ihre Irrungen und Wirrungen werden im nahezu zärtlichen Ton geschildert.
2. Cormac McCarthy: Die Straße (2007) – weil es immer noch gute Menschen gibt unter all den Menschenfressern. Die Handlung: Ein Vater und sein kränkelnder Sohn ziehen durch ein verwüstetes Land voller Asche und Staub. Ihren gesamten Besitz schieben sie in einem Einkaufswagen vor sich her. Eine Zeitlang leben sie in einem Bunker. Sie sprechen über Existenzielles und die Moral und flüchten vor jenen Menschen, die auf der Jagd nach Nahrung vor Ihresgleichen nicht zurückschrecken.
3. Irene Nemirovsky: Suite Francaise (2005) – weil es trotz des historisch realen Gewichts mit wunderbarer Leichtigkeit und großer Menschenkenntnis erzählt ist. Die Handlung: Nemirovsky schreibt nicht über den Krieg, sondern aus dem Krieg. Die ersten beiden Teile der unvollendeten Suite schildern den Sommer 1940, in dem ganz Paris vor den Deutschen flieht, und das Jahr 1942 in einem von Deutschen besetzten Dorf in der Provinz. Die - zu ihrer Zeit sehr anerkannte, später vergessene - Schriftstellerin Nemirovsky beendete ihr Werk nicht. Sie wurde deportiert und starb 1942 in Auschwitz. Ihr Manuskript wurde nach Jahrzehnten in einem Koffer aufgefunden.
4. Ian McEwan: Abbitte (2002) – weil am Ende alles noch einmal ganz anders ist. Die Handlung: Ein Sommertag auf einem britischen Landsitz im Jahr 1935. Die 13-jährige Briony stürzt ihre Schwester ins Verderben, weil sie deren leidenschaftliche Verbindung zum Sohn der Haushälterin als gewalttätig missdeutet. Mit einer Lüge versucht sie Cecilia zu helfen, bezichtigt Robbie der Vergewaltigung einer jungen Kusine. Er wird verhaftet, an Frankreichs Front geschickt. Das bezaubernde, hoffnungsvolle Ende aber besteht aus dem dünnen Eis der Fiktion.
5. Herta Müller: Atemschaukel (2009) – weil die Poesie beim Überleben hilft. Die Handlung: Ein Deutscher in Siebenbürgen wird nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in ein Lager nach Russland deportiert: „Es war 3 Uhr in der Nacht zum 15. Januar 1945, als die Patrouille mich holte. Die Kälte zog an, es waren -15º C.“ In poetischen Bildern beschreibt die Nobelpreisträgerin die „Hautundknochenzeit“, schreibt über „Hungerengel“, „Herzschaufel“, „Atemschaukel“, nimmt ihre Leser gefangen im Rhythmus ihrer Worte. Der Roman basiert auf Erinnerungen von Deportierten und Gesprächen mit dem verstorbenen Dichter Oskar Pastior.
6. Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (2005) – weil eine Zukunftsvision hier auf erschütternde Weise greifbar wird. Die Handlung: Kathy, Ruth und Tommy wachsen auf im britischen Internat Hailsham. In der Schilderung ihres Alltags irritieren zunächst Namensgebungen – die Erzieher heißen „Wächter“, manche Menschen werden als „Spender“ bezeichnet. Schließlich dringt die erschütternde Erkenntnis ins Bewusstsein: Kathy, Ruth und Tommy sind Klone von Menschen, sie werden dazu erzogen, sich alsbald Organspenden zu unterziehen – bis zu ihrem Tod. Die gesellschaftliche Organisation und Akzeptanz dieses Vorgehens, die Duldsamkeit der Menschen-Klone machen diesen Roman Ishiguros, der berühmt wurde für seinen verfilmten Bestseller „Was vom Tage übrig blieb“, zu seinem Meisterwerk.
7. Haruki Murakami: Naokos Lächeln (2001) – weil der Japaner mit Kult-Status so traurig-schön von der Liebe erzählen kann (und gekonnt am Rande des Kitsches balanciert). Die Handlung: Toru Watanabe liebt zwei Frauen (sogar drei, wenn man die Jugendfreundin Kizuki mitzählt, die sich einst selbst tötete). Zwischen der melancholisch-depressiven Naoko und der eher lebenslustigen Midori schwankt Toru, im Rhythmus alter Melodien – zum Beispiel dem Beatles-Song „Norwegian Woods“. (Der Roman ist der erste Murakamis, der direkt aus dem Japanischen (und nicht aus dem Englischen) übersetzt wurde. Gerade die Szenen körperlicher Intimität, die ganz aus Torus Erzähl-Perspektive geschildert sind, scheinen hier ungleich sachlicher berichtet als jene Sex-Szenen im vorigen Roman „Gefährliche Geliebte“, über denen sich das Literarische Quartett zerstritt.)
8. Jonathan Safran Foer: Extrem laut und unglaublich nah (2005) – weil der 11. September 2001 aus Sicht eines Kindes zum literarischen Experiment gerät. Die Handlung: Der neunjährige Oskar Schell irrt mit seinem Tambourin durch New York, er will das Geheimnis seines verstorbenen Vaters ergründen. Zugleich entspinnt sich die Geschichte seiner Großeltern, die einst vor der Bombardierung Dresdens flüchteten. Das überdeutliche literarische Zitat wird in den Händen Jonathan Safran Foers verformt zu einem Denkmal für kindliche Betrachtungsweisen, und da er stets die radikal kleine Perspektive behält, muss er sich um historische Verflechtungen nicht groß scheren. Ein Buch, das fesselt.
9. Katharina Hacker: Die Habenichtse (2006) – weil eine orientierungslose Generation in all ihrer Grausamkeit gezeigt wird. Die Handlung: Jakob und Isabelle waren einst ein Paar und werden es wieder, als sie sich just am 11. September 2001 auf einer Party in Berlin wieder begegnen. Sie heiraten, ziehen der Karriere wegen nach London. Dort aber erlebt das erfolgreiche Paar, wie ihr Leben aus den Fugen gerät. Isabelle verfällt dem Dealer Jim, Gewalt dringt in ihr Leben ein. Und sie sieht selbst dann noch tatenlos zu, als das Nachbarskind Sarah Opfer der Eskalation wird. Ein sehr eindringliches Porträt jener junger Menschen, die doch alles zu haben scheinen.
10. Ali Smith: Die Zufällige (2006) – weil es zu den zwei Büchern gehört, die von der hierzulande eher unbekannten, aber wunderbar treffsicheren schottischen Autorin ins Deutsche übersetzt wurden. Die Handlung: Eine Familie macht Sommerurlaub auf dem Land. Die Mutter kämpft mit ihrer Schreibblockade, der Vater, ein Professor, fährt immer wieder heim in die Stadt, um sich mit Studentinnen zu treffen, die beiden Kinder sind ebenfalls mit sich beschäftigt, eine ganz normale Familie also! Dann kommt Amber, die keiner eingeladen hat – jeder denkt, die anderen würden sie kennen. Die Mädchenfrau bezaubert, verstört und verändert alle Familienmitglieder. Die Erleichterung bei ihrem Weggang am Ende des Sommers ist durchaus doppeldeutig zu verstehen.
Und schließlich: Zehneinhalb! Günter Grass: Beim Häuten der Zwiebel – weil ein Nobelpreisträger sich selbst entblößt, und dieses Buch in die deutsche Literaturgeschichte eingehen wird.
Die zweite Wahl
Beim zweiten Lesen der Auswahl aber blutet schon das Herz. Also muss noch eine Liste her, zur Rettung der Aussortierten: Zehn Bücher, die mich irgendwann in den vergangenen zehn Jahren fesselten oder berührten - und sei es nur mit einem Bild, einem Satz.
Alice Munro: Tricks (2006). Die Kanadierin schreibt seit Jahrzehnten über Frauen, die ausbrechen, an Ausbruch denken, den Ausbruch verpassen. Oder nach dem Ausbruch feststellen, dass sie sich nur erneut in Gefangenschaft befinden. Das Grandiose liegt im Ungesagten, im Vagen – ein eindeutiges Ende verweigert die Altmeisterin in den allermeisten ihrer Short Stories.
Yann Martel: Schiffbruch mit Tiger (2003). Ein religiös polygamer Mann (Hindu, Moslem, Christ) namens Pi Patel erleidet Schiffbruch, mit an Bord des kleinen Rettungsbootes sind eine Hyäne, ein Orang-Utan, ein verletztes Zebra – und ein Tiger. Was sich zunächst liest wie ein tierisches Absurditäten-Kabinett, verwandelt sich in urplötzlich in eine Fabel über den wahren Charakter der Menschen. Der große Schreck am Ende hallt lange nach.
Julia Franck: Die Mittagsfrau (2007). Wie kann eine Mutter das nur tun? Helene lässt ihren kleinen Sohn am Bahnhof zurück, mit einem gepackten Koffer und der Adresse von nahen Verwandten. In diesem Bild verdichtet sich die Geschichte einer Frau, der selbst die Liebe immer wieder abhanden kam. Ein Bild, das haften bleibt.
Marisha Pessl: Die alltägliche Physik des Unglücks (2007). Ein Buch für eine ziemlich lange, spannende Nacht mit Herzklopfen: Ein superschlaues Mädchen, Blue van Meer, zieht mit ihrem Vater, einem Professor, jedes Semester in eine neue amerikanische Universitätsstadt; die Erzählung ihres Lebens ist gespickt mit Zitaten, Verweisen, klugen Einlassungen. Als eine Lehrerin erhängt im Wald aufgefunden wird, entdeckt sie nach und nach das Geheimnis einer Organisation, die offenbar ihr Leben stets bestimmte. Und wenn der Krimi, der diesem Buch zugrunde liegt, am Ende aufgelöst ist – möchte man es am liebsten gleich noch mal lesen.
Mark Haddon: Supergute Tage oder Die sonderbare Welt des Christopher Boone (2003). Ein autistischer Junge als Erzähler, hat es das je gegeben? Gefühle versteht er nicht, doch warum Nachbars Pudel tot im Garten liegt, das will er unbedingt wissen. Ein außergewöhnlicher „Krimi“, ein grandioses Lesevergnügen.
Alexander Osang: Lunkebergs Fest (2003). Ostern und Weihnachten, Feiertage, Feste der Familie. Nur ist das ja meist kein Spaß! Frank Lunkeberg zum Beispiel hat jede Menge Leute zu Besuch und versteckt in Panik seine Hausschlappen im Kühlschrank, aber allein ist er ja doch. So geht es allen Menschen in Osangs entlarvenden Stories, die seine ganze erzählerische Kraft bündeln und das abgegriffene Wort „lakonisch“ ganz neu definieren.
Niels Fredrik Dahl: Auf dem Weg zu einem Freund (2004). Ein Junge, Vilgot, irrt durch die Straßen Oslos, doch bei seinem Freund wird er nie ankommen. Früh ahnt der Leser dieses grandiosen, einnehmenden Buches, dass dem Jungen Schreckliches begegnen wird. Im zweiten Strang des Buches ist der Junge längst erwachsen, dem Kindheitstrauma jedoch nicht entflohen. Ein Elefant, der aus einem Schuppen ausbricht, ist in diesem poetischen, traurigen, träumerischen Buch Sinnbild der Seelenflucht.
Clemens Meyer: Als wir träumten (2006).Das eindrückliche Debüt erzählt von der Wende, die das Leben einer Leipziger Clique kaum noch berühren kann. Rico, Mark, Paul und Daniel trinken, prügeln sich mit den Glatzen, gehen zum Fußball, trinken, prügeln, das alles zwischen Brauerei und Polizeirevier Südost. Meyer zementierte mit diesem Werk seinen Ruf als tätowierter Kraftmeier der Literaturszene, im Gedächtnis aber bleiben jene kurzen Momente, in denen der Kreis aus Prügeln-Saufen-Fußball stillsteht: wie da einer aus der Straßenbahn schaut und vom besseren Leben träumt.
Nicole Krauss: Die Geschichte der Liebe (2005). Vor über 60 Jahren schrieb Leo Gursky in Polen „Die Geschichte der Liebe“, für Alma. Die aber starb. Das Manuskript ging verloren. Gursky überlebte den Holocaust, wohnt nun in New York. Dort entdeckt ein Mädchen sein Manuskript, begibt sich auf die Suche nach ihm. Krauss springt in ihrem Roman zwischen Zeiten und Erzählperspektiven. Aus den Sprachsplittern ergibt sich eine Erzählung, die ein Fest der Hoffnung ist.
Thomas Glavinic: Die Arbeit der Nacht (2006). Jonas wacht auf und ist allein. Kein Mensch mehr lebt auf der Welt, kein Tier. Der Wiener Autor Glavinic lotet die Einsamkeit auf eine Weise aus, die radikal ist. Jonas stellt Videokameras auf, filmt seine Autofahrten durch die Stadt. Reist (im Schlaf, denn als „der Schläfer“ führt er ein Eigenleben) durch halb Europa. Eine Phantasie, die lange nicht mehr aus dem Kopf gehen will, ein literarisches Nachtgespenst.