Dortmund. Die deutsche Rock-Ikone Phillip Boa spricht im Interview über alte Zeiten und die Wiedergeburt seines Erfolgsalbums „Boaphenia“ von 1993.
Phillip Boa aus Dortmund ist eine der schillerndsten und eigenwilligsten Figuren der deutschen Musikszene. Das Album „Boaphenia“ von 1993 gilt als ein Klassiker des Indierock dank eines innovativen musikalischen Ansatzes und poetischer Texte. Es entstand in Zusammenarbeit mit Bowie-Produzent Tony Visconti. Zum 30. Jubiläum der Platte erscheint jetzt ein fünfteiliges Box-Set inklusive des neuen Studiowerks „The Porcelain Files“ im Stil von „Boaphenia“. Mit Phillip Boa, 60, sprach Olaf Neumann über sperrige Kunst, Political Correctness-Zensur und das Lebensgefühl von 1993.
Ein Song auf dem einflussreichen Originalalbum heißt „Utopia“. Wollten Sie mit Ihrer Musik eine Zukunftsvision erschaffen?
Phillip Boa: Klar beschäftigt man sich als euphorischer junger Mensch mit Utopien. Es sind viele Träume. Ich habe eigentlich mit dem Wort gespielt: Wie schön es wäre, wenn man für die Menschheit vielleicht etwas erreichen oder etwas stoppen könnte, wenn man es aktuell sehen möchte. Damals war ich total auf dem High. „Utopia“ drückt eine Menge Zukunftsoptimimus aus.
Ein Song wie „Get Terminated!“ wirkt sehr aktuell, behandelt er doch das Thema Kontrolle durch autoritäre Regierungen. In welches gesellschaftliche und politische Klima war das Album eingebettet?
Aus dem Blickwinkel von heute war es eine freiere, leichtere, unschuldigere und auch euphorischere Zeit für alle Menschen. 1993 war mein persönliches Lieblingsjahr, eine Aufbruchszeit.
„Boaphenia“ wurde von Tony Visconti und Craig Leon abgemischt, zwei der einflussreichsten Produzenten der jüngeren Musikgeschichte. Wie minutiös haben Sie die Platte konzipiert?
Tony Visconti hat nicht nur gemischt, bei „Love on Sale“ und anderen Songs ist er auch als Musiker und Sänger prominent. Ich habe ihn gefragt, ob er singen kann wie David Bowie. Ja, sagte er, das hätte er manchmal können müssen, wenn Bowie seine Stimme schonen musste. Bei dem Lied „Master of Demona“ hört man, wie Visconti mir gezeigt hat, dass er exakt so klingen kann wie David Bowie. Ein paar Jahre später haben die beiden sich ja wieder versöhnt.
Ihr Album hat in den vergangenen 30 Jahren kaum Patina angesetzt. Liegt das an Bowie-Producer Visconti, dem sogenannten Vater des Glamrock?
Definitiv ja. Diese amerikanischen Top-Mixer wie Visconti oder Craig Leon stehen völlig über der Zeit. Hören Sie sich mal die Ramones oder „20th Century Boy“ von T. Rex an. Diese Zeitlosigkeit ist umwerfend. Ich habe jedes ihrer Worte in mein Langzeitgedächtnis eingemeißelt. Ob Sie es glauben oder nicht, aber ich kann auch zuhören.
Der Plattenproduzent, Songschreiber und Arrangeur Craig Leon war maßgeblich an der Karriere von den Ramones, Suicide, Talking Heads und Blondie beteiligt. Sind das Bands, die Sie inspiriert haben?
Eine der großen Vorbilder für den Voodooclub waren die Talking Heads. Eine andere Lieblingsband von damals hieß Japan. Auch Kate Bush war ein Einfluss für uns. Für eine deutsche Band mittlerer Größe war „Boaphenia“ über die Jahre ein relativer großer internationaler Erfolg, aber nicht zu vergleichen mit Alphaville oder Rammstein. Es war eher etwas für Freaks.
Blicken Sie anhand solcher Wiederveröffentlichungen gern zurück, um zu begreifen, was Sie weshalb getan haben?
Absolut. Das ist halt das, weshalb es mich immer noch gibt. Ich betrachte die Musik seit jeher anders als die meisten, auch als autodidaktischer Produzent. Ich habe mir die guten Sachen von Brian Wilson angehört und gemerkt, wie er verschiedene Leute ins Studio eingeladen hat, die überhaupt nichts mit den Beach Boys zu tun hatten. Dort ließ er sie einfach spielen. Das habe ich auch so gemacht.
Einmal ist eine Geigerin heulend aus dem Studio gelaufen, aber zwei Jahre später stand im NME: „Geniale Geige!“ Ich habe immer international gedacht und analysiert, warum irgendetwas zeitlos klingt und wie und mit welchen Leuten man das erreichen kann. „Boaphenia“ klingt bewusst zeitlos. Ich wollte auch immer englisch singen, weil 1000 musikverrückte Fans in Japan, Holland oder den USA verstehen sollten, was ich zu sagen habe.
Welche Chancen hatten vor 30 Jahren Künstler, die etwas seltsam oder anders waren, auf einen Vertrag bei der Musikindustrie?
Eigentlich keine. Und dann kam Tim Renner und signte Element Of Crime und uns gleichzeitig. Die Polydor wollte sich von ihrem damaligen Schlagerimage in Deutschland befreien. Das hat auch funktioniert. Wir sind dann mit schlechtem Gewissen dahingegangen, weil man als Indiemusiker einen Ehrenkodex hat. Der ist heutzutage angestaubt, aber viele haben ihn immer noch.
Hat Tim Renner vielen deutschen Künstlern Karrieren ermöglicht?
Korrekt. Ich bin jetzt in dem Alter, in dem ich nicht mehr schlecht über die Leute rede, die mir etwas ermöglicht haben.
Unter dem Titel „The Porcelain Files“ enthält die Box auch ein Album mit elf neuen Songs. Wie aktuell sind die?
Zwei haben wir aus Resten von „Boaphenia“-Spuren gebastelt. Auf den Tapes waren noch Pia Lundas Stimmen drauf. Das lief so gut, dass David Vella und ich wieder zusammengefunden und anfangen haben, Songs zu schreiben. Und dann waren im Herbst 2022 ganz schnell neun weitere in der Tradition von „Boaphenia“ fertig.
Haben Sie „One Lonely Summer“ in der Lockdown-Zeit geschrieben?
Nein. Das ist eines der Stücke mit Pia, die wir auf den Originalbändern gefunden haben. Davon gibt es zwei Versionen. Das war der Anfang.
War Pia Lunda in das Projekt involviert?
Nee, wir haben sie nur um Genehmigung gefragt. Wir haben nicht sehr viel miteinander zu tun.
Was ist für Sie „A better place to be“?
1993! (lacht)
Vor 30 Jahren sind Künstler noch angetreten, die Bürger zu erschrecken und den gesellschaftlichen Konsens zu zerstören. Mithin Freigeister zu sein.
Das schon, aber Bürger erschrecken war nie mein Ding. Vielleicht am Anfang. Freigeist hundertpro, aber das kann ich jetzt immer noch sein. Ich kann Ihnen schwören, ich bin einer der wenigen Künstler, die wirklich nur das machen, was sie wollen. Ich habe sämtliche Plattenfirmen verschlissen, alle haben mich rausgeworfen, weil ich mir nichts vorschreiben lasse. Labelhopping, wie Mark E. Smith (The Fall). Das Obskure ist, dass die Universal-Leute jetzt überhaupt keinen Stress machen. Noch vor ein paar Jahren war das anders, auch die Vermarktung hat mir teilweise nicht gefallen. Ich hatte schon vor der Polydor drei, vier Label durch.
Ihre Zelte auf der Insel Malta haben Sie vor geraumer Zeit abgebrochen und Ihr Domizil in den Norden von London verlegt. Verbringen Sie dort noch viel Zeit?
Ich habe mir 1993 – vor „Boaphenia“ - eine kleine Wohnung in London angeschafft. Aber das ist durch den Brexit ein bisschen blöd geworden. In Malta bin ich heute wieder öfter, aber mit der Politik da bin ich nicht einverstanden. Mit dem unfassbar talentierten Engineer und Musiker David Vella war ich immer sehr gut befreundet, aber manchmal kann man mich einfach nicht mehr ertragen. Der hat schon Dinge mitgemacht, da wären alle anderen weggelaufen.
Das gesellschaftliche Verständnis von dem, was ein Künstler ist, hat sich sehr gewandelt. Die junge Generation erwartet von Künstlern, dass sie sich an einen Moralkodex halten. Wie fühlt es sich an, in diesen Zeiten Kunst zu machen?
Ich finde, die übertreiben. Es gibt Festivals, auf denen eine Art Sittenpolizei herumläuft. Die kontrolliert, was Künstler auf der Bühne formulieren. Das klingt nach 1984.
Ich habe den Vorteil, dass ich meine Texte in Englisch singen kann. Da wird man nicht ganz so stark analysiert. Teilweise verstehen die auch gar nicht, was ich schreibe, weil es bis zu drei Interpretationsebenen hat. Das geht oft in eine Parallelwelt mit Halbwirklichkeiten und Wahrnehmungsverschiebungen. Oder es handelt sich um eine versteckte Meinung, die man nur erkennen kann, wenn man sich wirklich damit beschäftigt. Was leider niemand macht.
Bleibt Kunst trotz allem ein relevantes Medium, eine Gesellschaft zu bilden?
Wenn der Künstler sich anpasst, immer milder wird und dadurch seine künstlerische Ausdrucksfreiheit verliert, ist es keine Kunst mehr. Dann hat die Kunst ihre Freiheit und Unschuld verloren. Käme es jemals so weit, dass meine Arbeit als Vinyl-, CD- oder Streamingkünstler zensiert wird, würde ich sie von heute auf morgen niederlegen. Daran geht die Welt zugrunde! Das wäre Zensur, und Zensur eines Künstlers geht nicht. Ich mache, was ich will, und wenn ich eines Tages zu meinem Bassisten aus Spaß nicht mehr „Motherfucker“ sagen darf ... Jedes Verbot an sich ist nichts Gutes. Es sei denn, es ist wirklich zu krass. Aber das ist der Punkt: Wo genau ist die Grenze?
Was glauben Sie?
Ich fände es zum Beispiel nicht gut, wenn jemand wirklich andere Leute verletzt. Aber die Grenze der Zensur ist jetzt schon ein bisschen überschritten. Es gibt eben diese Festivals, wo eine Ansammlung von Leuten herumläuft und die Menschen überprüft, die etwas darbieten. Das gibt es defintiv schon, und es macht mir Angst.
Wer oder was gibt Leuten die Legitimation, zu entscheiden, wo Zensur ansetzen sollte?
Die Zeit: 2023. Das ist der eklatante Unterschied zu 1993. Zu erkennen, was ist jetzt Spaß, wo habe ich eine New-York-Hip-Hop-coole Language, die keinem weh tun soll – und wo übertreibe ich da. 1993 ist einfach viel unschuldiger gewesen. Keiner hat irgendeinem weh tun wollen.
Sollte Kunst nicht auch ein bisschen weh tun?
Aber sie darf nicht konkret Menschen verletzten. Punk zum Beispiel war eine Provokation, aber er hat keinen Menschen gedemütigt. Wir könnten das jetzt tagelang weiterdiskutieren und fragen uns dann immer noch, wer entscheidet, was Zensur ist und wo sie ansetzen sollte und wo nicht.
„Boaphenia“ ist in der Hinsicht lastenfrei. Es ist ein Ausdruck von „du lässt dich fallen, du fliegst“. Samstagnacht, wo in Malta wirklich viel Verkehr ist, haben wir uns mitten auf eine Hauptstraßenkreuzung gelegt, total friedlich. Bis jemand sagte, wir sollen uns da verpissen. Wir haben gemacht, was wir wollten. Es war total chaotisch, aber niemand hat es dir krumm genommen. „Boaphenia“ fasst diese Sehnsucht nach Freiheit zusammen.