Gelsenkirchen..
Peter Hailer inszeniert „Anatevka“ im Musiktheater im Revier. Ein Abend mit feinster Schauspielkunst , hervorragend genutzem Raum und grandios entwickelten Massentableaus mit ihren überwältigenden Choreographien.
Es sind die kleinen Gesten, die dazu beitragen, aus Peter Hailers „Anatevka“-Inszenierung einen großen Abend zu machen. Es gibt feinste Schauspielkunst. Und sie hat einen Namen: Joachim G. Maaß. Doch nicht nur der Bassist besteht gegen die beiden hochkarätigen Schauspieler-Gäste, gegen die wunderbare Lena Stolze als Tevje-Gattin Golde und Navid Akhavan (Studenten-Revolutionär Perchik): Junge Sängerinnen im Ensemble wie Judith Jakob (Zeitel), Filipina Henoch (Hodel) oder Jana Stelley (Chava) spielen und tanzen auf einem Niveau, wie man es vor Jahren von einem „klassischen“ Opernsänger nicht unbedingt erwarten durfte. Ein Zeichen auch dafür, wie sehr sich die Ausbildung an Hochschulen und Akademien geändert hat.
Anatevka, das Schtetl im zaristischen Russland des frühen 20. Jahrhunderts, ist auf der Bühne des großen Hauses eine hochatmosphärische Ansammlung mobiler, stilisierter Bauern- und Handwerkerkaten, die in ihren stürzenden Linien, ihren verzerrten Perspektiven geradewegs einem Bild vom Chagall entsprungen zu sein scheinen (Bild: Etienne Pluss).
Und zwischendurch eine Parodie auf „Wicked - Die Hexen von Oz“
Peter Hailer nutzt den Raum grandios, um die von Joseph Stein nach einem Roman Scholem Alejchem entwickelte Geschichte vom Niedergang einer Gemeinschaft, vom Ende alter Traditionen und von der rettenden Kraft der Liebe zu erzählen: in liebevoll ausgestalteten Bildern, in Momentaufnahmen voll melancholischen Humors (Tevjes Zwiesprachen mit Gott), in kleinen Szenen, in denen das Bedrohliche (die bevorstehenden Pogrome) umso stärker wirkt, als es leise, unaufdringlich daherkommt. Gelegentlich – etwa wenn Tevje einen absurden Alptraum erfindet, um Golde zu erläutern, warum nur der arme Schneider Mottel (E. Mark Murphy) und nicht der reiche alte Metzger Lazar (Thomas Weber-Schallauer) als Zeitels Bräutigam in Betracht kommt – gestattet sich der musicalerfahrene Regisseur sogar einen Insider-Gag. Goldes Großmutter und vor allem Lazars verstorbene Ehefrau wirken wie hexenhafte Wesen aus einer schrägen Schauergeschichte, hinreißend verrückt. Dass Hailer damit „Wicked – Die Hexen von Oz“ parodiert, gibt der Szene den Zusatz-Kick.
Grandiose Massen
Seine unbestrittenen Höhepunkte erreicht der Abend, wenn Sänger-Darsteller, Statisterie, Chor und Tänzer sich, etwa beim Hochzeitstanz in der Kneipe, zu grandios entwickelten Massentableaus zusammenfinden. Die Choreographien, die Kati Farkas für das Ensemble Schindowski erarbeitet hat, sind überwältigend, bravourös ist auch der von Christian Jeub geleitete Chor. Am Pult der Neuen Philharmonie steht Bernhard Stengel, der das Orchester souverän durch Jerry Bocks Mischung aus Klezmer und Broadway-Sound führt, dem man nur gelegentlich etwas mehr Mut zu größerer Dynamik gewünscht hätte.