Essen. Annika Fischer hat sich ein paar „Auszeiten am Fluss“ gegönnt – und stellt ihre Geschichten und Erlebnisse entlang der Ruhr nun als Buch vor.
Wenn man die gut fünf Millionen Menschen, die entlang der Ruhr leben, fragen würde, welche wohl ihre Lieblingsstelle am Fluss ist… Man bekäme wohl mindestens 219 verschiedene Antworten. Denn über 219,3 Kilometer fließt und windet sich der kühle Strom durch die Region, die ihm den Namen verdankt. Wer nun selbst die schönsten Fleckchen am Ufer oder auf dem Wasser sehen und erleben will, könnte sich dabei leicht verzetteln – oder sollte sich besser vorher guten Rat holen. Am besten von einer Kennerin wie Annika Fischer, die mit „Auszeiten am Fluss – Entdeckungen und Erlebnisse entlang der Ruhr“ ein nicht nur lesenswertes, sondern auch äußerst ansehnliches Buch vorgelegt hat.
Gemeinsam mit dem Essener Fotografen Jochen Tack hat die Reporterin der WAZ sich aufgemacht, um zwölf Stationen zu erkunden, ihre Besonderheiten zu ergründen und nebenbei Tipps auch leicht abseits des Wegesrandes zu geben. Wer in die Seiten eintaucht, wird nicht nur überwältigt davon sein, welche Vielfalt von Eindrücken es zu Fuß, auf dem Wasser und auf dem Rad zu bestaunen gibt, er wird auch die eigene Heimat ein gutes Stück besser kennen und schätzen lernen.
Wie bei einer Fahrt mit dem Hogwarts-Express
Die Reise beginnt im Osten, in Schwerte, wo die Ruhr aus dem Sauerland im Ruhrgebiet ankommt und dort noch durch das satte Grün der Naturschutzgebiete führt. Hier begegneten Fischer und Tack früh am Morgen in den Nebelschwaden und an den sumpfigen Wiesen Vogelfreunden, die schon in der Morgendämmerung lauern, um von einem Beobachtungsstand aus Störche und Eisvögel, Blässrallen und Rohrdommeln ins Visier ihrer Ferngläser zu nehmen. Dass man im flussaufwärts gelegenen Naturschutzgebiet Bahnwald noch Natur pur erleben kann, wird aus Fischers Beobachtungen deutlich: „Es finden sich dort naturnahe Laubwälder aus Buchen und Eichen, Hochstaudenfluren und Röhrichte, dazu der Große Abendsegler, eine Fledermausart.“ Und natürlich auch dieser Kontrast: Bombentrichter aus dem Zweiten Weltkrieg, die sich die Natur zurückerobert hat.
Es geht über Dortmunds Hohensyburg zum Kemnader Stausee, über die Hanse(!)stadt Hattingen zum Baldeneysee, nach Mülheim und schließlich zur Mündung in den Rhein in Duisburg Ruhrort. Und wie oft muss man innehalten, um zu staunen. Was für ein Idyll: Wenn man am richtigen Tag an der richtigen Flussbiegung in Witten steht, dampft die Muttentalbahn zwischen der Ruhr und der Burgruine Hardenstein entlang, was einen Anblick abliefert, wie man ihn bei einer Fahrt im Hogwarts-Express kaum prächtiger erleben könnte. Dass in der Burg einst der Zwergenkönig Goldemar das Geschlecht der Hardensteiner verflucht haben soll, erfährt man ebenso wie die etwas profanere Wahrheit, dass die Wasserburg ab dem Mittelalter nicht mehr bewohnt und gepflegt wurde. Was sich heute geändert hat, denn dank beherzter Hilfe eines eigens dafür gegründeten Vereins wird das rudimentäre Gemäuer heute vorbildlich in Schuss gehalten und vor Vandalen geschützt.
Selbst die Nebenschauplätze sind einen Ausflug wert
Das Schöne an den „Auszeiten am Fluss“ ist: Man muss nicht den vorgegebenen Reiserouten folgen, sondern erhält mit kleinen Tipps „Am Weg“ oder „In der Nähe“ pro Station mehrere Möglichkeiten, seine eigene Reise abzuwandeln und so einen Abstecher zu einer Sehenswürdigkeit wie der Zeche Nachtigall zu machen, zur Privatbrennerei Sonnenschein oder ins Eisenbahnmuseum Dahlhausen. Dabei können selbst die vermeintlichen Nebenschauplätze für eine tages- oder abendfüllende Beschäftigung genutzt werden, etwa wenn man ab Mitte August einen Abstecher zum Zeltfestival Ruhr am Kemnader See unternimmt – falls die Konzerte des Abends nicht ausverkauft sind.
Dabei wird gefühlvoll auf die Besonderheiten und Lagen der Städte eingegangen, beim Hattingen-Trip sind etwa auch Haus Kemnade (dem bald ein gastronomischer Neustart bevorsteht) und die Burg Blankenstein großzügig mit aufgenommen, obwohl sie ja formal zu Bochum gehören, aber sich doch prima in die Gesellschaft der Isenburg einfügen. Die malerischen Ecken wie die Brehminsel mitten im Fluss bei Essen-Werden werden herausgehoben, auch Mülheim erhält viel Lob: „Vorbei an Schlössern, Burgen, Türmen, durch weite Auen und viel Natur – und vor allem über all diese wunderschönen Brücken.“
Wo Rheinorange auf Poseidon trifft
Annika Fischer stellt nicht nur kundig vor, sie erzählt ihre Geschichten in wunderschöner, eleganter und anspielungsreicher Sprache, mit geschulter Beobachtungsgabe und – wenn angebracht – mit Mitgefühl und Warmherzigkeit. Und man sieht den Fotos ihres Begleiters Jochen Tack an, dass die Ruhr ein Fluss der Lebenslust und Schönheit ist, da muss man gar nichts erst künstlich beschönigen.
Natürlich lässt sich der Band auch als normaler Reiseführer lesen, denn die einzelnen Kapitel haben einen hoher Nutzwert. Gleich am Anfang jeder Etappe gibt es einen Infoblock, der die wichtigsten Fakten für die An- und Nachreise zusammenfasst, auch mit Bus und Bahn. Entlang der Strecken empfiehlt Fischer jeweils das ideale Verkehrsmittel, um das Beste aus der Strecke herauszuholen – das kann durchaus mal ein Kanu sein.
Aber die Reise wäre natürlich nur halb so schön, wenn man sich nicht den liebevoll vorgestellten Details widmete, die bei der Reise von Ost nach West zwangsläufig an die Stelle führen, wo die Ruhr in den alten Vater Rhein mündet und die mit den Skulpturen Rheinorange von Lutz Fritsch und dem „Echo des Poseidon“ von Markus Lüpertz endet, dem die Einheimischen sogar zweierlei übel nehmen: Zum einen die Gesichtsähnlichkeit mit Lüpertz‘ Gelsenkirchener „Herkules“, zum anderen, dass sich das Gesicht vom Stadtteil Ruhrort abwendet Richtung Fluss. Wer könnte es ihm übel nehmen, schließlich haben wir gerade gelernt, wie schön es dort ist.
Annika Fischer: Auszeiten am Fluss – Entdeckungen und Erlebnisse entlang der Ruhr, Klartext-Verlag, 144 Seiten, 16,95 €