Würde man den Zustand einer Gesellschaft anhand der veröffentlichten Platten untersuchen und dabei auf „Disintegration“ von The Cure stoßen, müsste die Schlussfolgerung für England im Jahre 1989 ziemlich negativ ausfallen.

Was müssen das für Zeiten gewesen sein, in denen eine Band solch schwermütige Songs schreibt, diese auf einem Album namens „Disintegration“ veröffentlicht, auf dem der mit Abstand fröhlichste Song „Lovesong“ heißt, auch ein solcher ist, aber klingt, als wäre die besungene Liebe der allerletzte Ausweg? Zumindest waren es Zeiten, in denen man innerhalb weniger Jahre drei Millionen solcher Platten verkaufen konnte.

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Von DerWesten

Dass ihr achtes, tieftrauriges und sperriges Studioalbum trotzdem zu ihrem bis heute meistverkauften Album avancierte, lag nicht etwa am Hit tauglichen dreieinhalb Minuten „Lovesong“, sondern an der dicht gestrickten Atmosphäre und der düsteren Stimmigkeit. Robert Smith und seine Band erinnerten mit diesem melancholischen Meisterwerk wieder an The Cure der frühen 80er Jahre, nur klangen sie viel aufgeräumter und nicht so verstörend wie 1982 „Pornography“.

Eine weitere Untersuchung, die man auf Grundlage von „Disintegration“ in Angriff nehmen könnte: Warum macht melancholische Musik im Endeffekt glücklich? Schließlich war das Album, das mit seinen Synthesizern und der Stimme Smiths vor Schwermut nur so triefte, Balsam für einsame Seelen. Und zwar nicht, um in Selbstmitleid zu versinken, sondern um Kraft zu sammeln. Wenn Smith zum glitzernden Sound des siebeneinhalb-minütigen „Pictures of you“ – bis heute einer der schönsten und emotionalsten The Cure-Songs – folgende Zeilen mit Inbrunst singt, möchte man ihn am liebsten in den Arm nehmen: „There was nothing in the world that I ever wanted more / Than to feel you deep in my heart / There was nothing in the world that I ever wanted more / Than to never feel the breaking apart my pictures of you.“

Wie nah am Aufnahmeprozess Robert Smiths inszeniertes, abschreckendes Wesen tatsächlich war, weiß wohl nur die Band selbst. Jedenfalls wirkte die Gothic-Gestalt Smiths, mit seinen toupierten Haaren, der bleichen Haut und dem roten Lippenstift nicht nur im „Lullaby“-Video etwas entrüstend, während sie halluzinierend im Bett liegt und auf das Dinner mit Spiderman wartet. Die verstörenden Bilder der „Disintegration“-Videos spiegeln in gewisser Art die Albumaufnahmen wider.

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Jedenfalls nahmen The Cure erste nebulöse Songs auf, die sie im September des gleichen Jahres am gleichen Ort erneut einspielten – weniger benebelt. Eine Zeit, in der sich die Wege von Schlagzeuger Laurence Tolhurst und dem Rest der Band trennten. Maßgeblich geprägt wurde „Disintegration“ vom manchmal exzentrischen Frontmann Robert Smith und seiner charismatischen Stimme. Die Band ließ ihn viele Entscheidungen treffen – das nicht erst, nachdem er während der finalen Aufnahmen in Thames Valley die handschriftlichen Texte (angeblich) aus seinem lichterloh brennenden Zimmer des Studioanwesens gerettet hatte. Fortan hätte Smith abgesondert in einem kleinen Zimmer auf den Dachboden unterkommen müssen. Zwangsisolation für den Frontmann also, der diese in ein geniales, schwermütiges Album ummünzte, das man bis heute eben- und bestenfalls alleine genießen kann.

Nicht nur The Cure waren von ihrem außergewöhnlichen Werk überzeugt, ihre Fans machten „Disintegration“ zum meistverkauften Album der Bandgeschichte. Es folgten mehr als 75 ausverkaufte Konzerte zwischen Mai und September, die ersten Stadion-Shows in den USA, drei aufeinanderfolgende Abende in der Wembley Arena und ein Auftritt bei den MTV Awards.

Die Plattenfirma hatte The Cure vorab gewarnt, ihre Popularität und ihren Erfolg mit einem solch sperrigen Album aufs Spiel zu setzen – glücklicherweise ohne auf Gehör bei der Band zu stoßen.


Die Charts des Jahres:

David Hasselhoff liefert den Soundtrack zum Mauerfall – könnte man meinen. In Wahrheit ist der Song im November längst aus den Charts gefallen. Zu der Zeit feiert Deutschland einen verspäteten Sommerhit: Lambada ist Tanz des Jahres. In England sind Kylie Minogue und Jason Donovan die Abräumer. Die Ex-Soap-Stars werden mit Hits vom Fließband versorgt. In den USA steht Janet Jackson erstmals in der Käufergunst vor Bruder Michael.

1.David Hasselhoff: Looking For Freedom

2.The Mysterious Art: Das Omen

3.Robin Beck: First Time

4.Roxette: The Look

5.Kaoma: Lambada

6.Madonna: Like A Prayer

7.Jive Bunny & The Mastermixers: Swing The Mood

8.Fine Young Cannibals: She Drives Me Crazy

9.Soulsister: The Way To Your Heart

10.Technotronic: Pump Up The Jam