Essen. Zehn Wochen nach dem Schlaganfall darf Christa Heidecke zurück nach Hause. Für ihren Sohn beginnt ein Kampf um den Pflegegrad.

Redakteur Gerd Heidecke schildert das Leben seiner bald 90-jährigen Mutter nach ihrem Schlaganfall – Teil drei eines ganz persönlichen Blogs.

Pflegende Angehörige sind froh über jede Sorge, die ihnen vom Sanitätshaus in der Klinik professionell abgenommen wird. Und Sorgen gibt es genug, bevor es Anfang August endlich wieder nach Hause geht. Eine ambulanter Pflegedienst muss gefunden werden, und das ist im Sommer 2017 bereits sehr schwierig. Zwei Jahre später scheint es kurzfristig bereits unmöglich zu sein.

Wir finden einen alteingesessenen Familienbetrieb. Das Gründer-Ehepaar ist seit Jahrzehnten in der Pflege engagiert und baut zu dem Zeitpunkt gerade auch eine Tagespflege auf. Das DRK wird unter der Woche das Essen bringen, am Wochenende kochen wir selbst. Ein Hausnotruf ist installiert, Rollstuhlrampen für den hinteren Treppenabgang aus ihrer Wohnung in den Garten bestellt. Das Bett ist da und kommt ins helle Wohnzimmer mit Blick in den Garten auf die Magnolie.

Jetzt ist die Zeit, etwas zurückzugeben. Wir Brüder stellen einen Betreuungsplan auf. Meine Geschwister wohnen bei ihr im Haus. Nachts soll ein Babyfon den Kontakt aufrechterhalten. Ab sofort bestimmt der Schichtwechsel unser Leben, das Klingeln des Pflegedienstes, Essen kochen, Wäsche waschen, Einkaufen. Nach Hause Pendeln, zur Arbeit, eigenen Haushalt führen, um die inzwischen zwölfjährige Tochter kümmern, die sich wiederum voller Empathie um ihre Großmutter kümmert. Die Mitarbeiter des Pflegedienstes tun, was sie können, und fast alle können, was sie tun – aber sie sind eng getaktet, hetzen im vorgegebenen Minutenrhythmus von einem Hilfsbedürftigen zum nächsten.

"Nie zuvor hatte ich meine Mutter nackt gesehen"

Die eigene Mutter anziehen, ausziehen, ihr beim Essen helfen, zur Toilette bringen, ihr Windeln anziehen, sie waschen, eincremen, kämmen, die Teilprothese ihrer Zähne herausnehmen, die sie uns verschwiegen hatte. Ich habe sie erst auf dem Röntgenbild ihres Kopfes entdeckt. Ihre Scham ist groß. Ich muss mich überwinden. Nie zuvor hatte ich meine Mutter nackt gesehen. Nie zuvor war ich ihr so nah, und werde es nie wieder sein können. Meine Mutter lebt in ihrer Welt als glückliches, ungefähr 15-jähriges Mädchen und erzählt stets die gleichen Geschichten, von langen Schulwegen in ausgetretenen Schuhen. Was ich nie ganz verstehen werde: Nicht einmal spricht sie ohne Aufforderung von unserem Vater, dem sicher einzigen Mann in ihrem Leben. Manchmal sind wir sogar glücklich wie nie zuvor als Mutter und Sohn, wenn wir uns im Garten Bälle zuwerfen und sie dabei lacht und lacht, so aus vollem Herzen, wie ich mich nicht erinnern könnte. Es ist eine Erinnerung an wunschloses Glück, die bleiben wird.

Ein Glück, das nicht von Dauer ist. Nach wenigen Wochen sind wir alle ausgehöhlt vom ständigen Stress. Mich belastet die ständige Konfrontation mit dem schleichenden Verfall meiner Mutter und die Hoffnungslosigkeit, dass es noch einmal besser werden könnte. Es ist auch der Blick in die eigene Zukunft als Greis, den ich immer schlechter ertragen kann, der Verfall, der Tod. Zu einem selbstbestimmten Leben gehört für mich ein selbstbestimmter Tod, das sage ich meiner Tochter immer wieder, und das ich nicht so enden will als dementer Pflegefall. Doch wer weiß, wie man selbst einmal am Leben hängt, auch wenn es kaum noch eins zu sein scheint. Auch darüber sprechen wir.

Nach drei Monaten gestehen wir Brüder uns ein, dass wir es nicht schaffen. Wir beschließen, eine Pflegekraft zu suchen, die bei meiner Mutter wohnen soll und sie rund um die Uhr betreut. Der Entschluss ist kurzfristig eine Befreiung, doch ebenfalls eine Erklärung des Scheiterns.

Der Kampf um den Pflegegrad

Meine Mutter hat, wie in solchen Fällen üblich, bereits in der Reha den vorläufigen Pflegegrad 2 erhalten, die zweitniedrigste der fünf Stufen. Später soll der zuständige Medizinische Dienst der Pflege- und Krankenkassen eine endgültige Beurteilung abgeben. Der Pflegegrad bestimmt das Pflegegeld und beispielsweise auch, wie viele Tage in der Woche ein Anspruch auf Tagespflege besteht.

Eigentlich ist es einfach: Mein Mutter kann gar nichts mehr selbstständig tun. Sie kann nicht aufstehen, sie kann sich nicht waschen, sie kann sich nicht anziehen, sie kann nicht laufen. Die einfachsten Handarbeiten wie Sticken, die sie früher im Schlaf beherrscht hätte, misslingen ihr. Ihr Kurzzeitgedächtnis ist bei Null, ihre Konzentrationsfähigkeit gering. Ein paar Minuten Malen, ein paar Minuten Bügelperlenbilder legen, mehr geht nicht. Die eigentlich einfache Bedienung des verstellbaren Bettes und des elektrischen Fernsehsessels mit Aufstehhilfe kann man ihr nicht mehr erklären. Selbst am Einschalten des Fernsehers oder des Radios scheitert sie. Um im Rollstuhl vorwärts zu kommen, fehlt ihr Kraft und Koordination. Trotz von mir angebrachter farblicher Markierungen vergisst sie, die Rollstuhlbremsen festzustellen oder zu lösen. Sie ist schlicht ein Pflegefall, rund um die Uhr. Im Pflegeheim wird man sie später in die Ecke schieben, so wie die anderen in ihrem Zustand auch, weil man genau das nicht leisten kann: Betreuung rund um die Uhr.

Ein Pflegefall rund um die Uhr, aber nicht für den Medizinischen Dienst. Pflegegrad 3 rechnet die Gutachterin am Laptop vor. Sie entschuldigt sich, da kann man nichts machen, ist alles vorgegeben. Das Programm sei eben so. Ihre Befragung ist teilweise suggestiv, die Antworten meiner Mutter, so absurd sie auch sein mögen, werden von ihr nicht hinterfragt. In ihrer Selbsteinschätzung kann meine Mutter alles noch, schildert ihr Leben vor dem Schlaganfall als das jetzige, hat in ihrer Schilderung viele Hobbys, spielt ein knappes Dutzend verschiedene Flöten und beschäftigt sich den halben Tag lang mit Handarbeiten. Kümmert sich um ihre einst sehr vielen Verwandten, dabei ist sie bis auf eine Cousine die letzte Überlebende ihrer einst großen Sippe. Immer wieder muss ich eingreifen und richtigstellen: „Nein Mutter, das kannst Du nicht mehr, nein Mutter, das machst Du nicht mehr. Nein, die sind schon vor langer Zeit gestorben.“ Was die Gutachterin sich dabei denkt, kann man sich ausmalen: Da will wieder einer seine Mutter schlecht aussehen lassen, um möglichst viel Pflegegeld rausschlagen.

"Nichts davon entspricht der Realität"

Die Gutachterin hält fest: Fortbewegen innerhalb der Wohnung: überwiegend selbstständig. An- und Auskleiden: überwiegend selbstständig. Sichbeschäftigen, Zukunftsplanung, Kontakt zu Personen außerhalb des direkten Umfeldes: überwiegend selbstständig. Sie würde die Zeitung lesen und sich einfache Mahlzeiten zubereiten. Nichts davon entspricht der Realität. Selbst beim Nachlesen des Gutachtens drei Jahre später machen mich diese krassen Falschdarstellungen noch wütend. Welches System steckt hier dahinter? Wessen Interessen soll der Medizinische Dienst wahren? Wohl kaum die der Betroffenen.

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Knapp zehn Punkte fehlen auf der bis 100 reichenden Skala für Pflegegrad vier, finanziell ein Riesenunterschied. Wiederbegutachtung: Ende des darauffolgenden Jahres, Dezember 2018. 18 Monate nach einem Schlaganfall sind wahrscheinlich ein Gutteil der Patienten in dem Alter bereits gestorben. Wir legen Widerspruch ein. Besonders ihre geistigen Fähigkeiten sind nachweisbar übertrieben gut dargestellt. Auch mit einer Korrektur in diesen Punkten erreichen wir nicht Pflegegrad vier. Aber nur Beharrlichkeit und ständige Widersprüche zahlen sich aus, hatten mir andere Betroffene erzählt. Und sie sollten Recht behalten.

Mit der nächsten Gutachterin, die auf unseren Widerspruch hin geschickt wird, haben wir Glück. Sie kommt zu spät, ist hektisch und unaufmerksam. Dann schreibt sie dumme Fehler in ihre Beurteilung. Aus der Liebe meiner Mutter zu Handarbeiten macht sie, dass meine Mutter ihr Leben lang als Schneiderin gearbeitet hätte. Außerdem vergibt sie weniger Punkte als bei der Erstbegutachtung, obwohl es meiner Mutter sicher nicht besser geht, und damit lässt sich die Beurteilung aushebeln. Auf unseren erneuten Widerspruch hin wird meine Mutter nach Aktenlage in Pflegegrad vier eingestuft.

Für 2018 weist die offizielle Statistik des Bundesgesundheitsministeriums 2,73 Millionen Menschen in Deutschland in ambulanter Pflege aus, davon 1,39 Millionen mit Pflegerad zwei, 850.000 mit Pflegegrad drei, 360.000 Millionen mit Pflegegrad vier und 137.000 Millionen mit Pflegegrad fünf. Wären davon nur zehn Prozent eine Stufe zu niedrig eingestuft, würde eine Richtigstellung das finanziell angespannte Pflegesystem zum Zusammenbrechen bringen. Dazu kommt noch die Dunkelziffer von Menschen, die ihren Anspruch gar nicht wahrnehmen. Ungezählt sind die älteren Menschen, die aus Scham keinen Antrag stellen. Unwissenheit über die eigenen Rechte oder die der Angehörigen sind ein weiterer häufiger Grund, den man bei Gesprächen erfährt. Nur ein Prozent der Menschen in ambulanter Pflege nehmen eine Kurzzeitpflege in einem Heim in Anspruch, damit pflegende Angehörige eine Auszeit nehmen können. Dagegen sind die Leitungen von Pflegeheimen gut informiert und bemühen sich zumeist aktiv um eine möglichst hohe Einstufung ihrer 861.000 Heimbewohner, damit sie für im Endeffekt die gleiche Pflegeleistung die höchstmögliche Erstattung erhalten.

Der Kampf mit der Bürokratie

Arbeitnehmer können ihre Arbeitszeit zur Pflege von nahen Angehörigen vorübergehend reduzieren. Für den Verdienstausfall gibt es auf Wunsch ein zinsloses Darlehen im Rahmen des Familienpflegegesetzes, das anschließend abgestottert werden kann. Es wird selten beantragt, ist jedoch auch sinnlos. In meinem Fall wird der Antrag erst kurz vor dem Ende der Pflege-Auszeit von Anfang September bis Ende Dezember bewilligt, Nachfragen zwischendurch einfach so beantwortet: Ist in Bearbeitung. Die viermal 254 Euro bekomme ich erst nachträglich, die Rückzahlung beginnt sofort – ein Witz. Wer wirklich drauf angewiesen ist – und für diese pflegewilligen Angehörigen ist es ja gedacht – erhält es, wenn es zu spät ist. Vielen Dank, liebes Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben in Köln.

Unfassbare Erlebnisse bringt auch der Kontakt mir der Pflege- und Krankenkasse. Ihr ganzes Leben nach dem Krieg ist meine Mutter bei einer großen Ersatzkasse versichert, die einen Ortsteil von Wuppertal im Namen trägt, über sieben Jahrzehnte lang. Behandelt wird man 2017 an deren Hotline jedoch nicht wie ein langjähriger Kunde, sondern wie von einem Telefonprovider, bei  dem man seinen Handyvertrag kündigen möchte. Keine vereinbarten Rückrufe, keine Eingangsbestätigungen, keine Auskünfte, Verschleppungstaktik, Unfreundlichkeiten, willkürliche Gesprächsabbrüche. Die Hotline sei im Aufbau, die Mitarbeiter nicht nicht so erfahren, heißt es zur Entschuldigung. So viel Nerven kann man kaum haben, diese Art von Telefonterror zu überstehen. Und eigentlich hat man ja auch ganz andere Sorgen. Zur Ehrenrettung der Versicherung muss man sagen, dass die Mitarbeiter in den Geschäftsstellen genau den gegenteiligen Eindruck hinterlassen: kompetent, freundlich, hilfsbereit, ehrlich bemüht. Über die eigene Hotline äußern sie sich vielsagend nicht.

Die Suche nach einem Kurzzeit-Pflegeplatz

Je nach Pflegegrad besteht ein Anspruch auf Übernahme der Kosten für einen Kurzzeitpflegeplatz. Was ist der Anspruch wert? In Ferienzeiten so gut wie nichts, denn ohne langen Vorlauf gibt es einfach keine freien Plätze. Beim ersten Mal klappere ich alle Altenheime in Mülheim ab, um für die Herbstferien ein paar Tage eine Unterkunft zu bekommen, nicht zuletzt, damit meine Tochter und ich wenigstens eine Woche nach Holland fahren können. Ergebnis: null – außer den ersten Erfahrungen mit Altenheimen.

Ich weiß nicht mehr, in wie vielen Heimen ich einen Antragsformular mit den ewig gleichen Fragen ausgefüllt habe, die immer gleichen Bescheinigungen beibringen musste. Man wünscht sich oft so etwas wie Pflege 2.0, gelebte Praxis ist jedoch Vorcomputerzeit. Hier das typische Schema für die Suche nach einem Kurzzeitpflegplatz anhand eines beliebten Altenheims direkt an der Ruhr: Bei langfristigen Anfragen, etwa für die Ferienzeit, heißt es: So lange planen wir nicht im Voraus. Bei kurzfristigen Anfragen heißt es: alles belegt. Dreimal geht es uns in diesem der evangelischen Kirche verbundenem Heim so. Beim vierten Mal lassen wir erstmals und widerwillig Beziehungen spielen – und erhalten zweimal hintereinander einen Platz, in den Oster- und in den Sommerferien.

Das Zimmer für Kurzzeitbewohner ist dort das schlechteste im Haus an der Ruhr, abgelegen in der hintersten Ecke, aber das ist nach meinen weiteren Erfahrungen nicht nur hier so. Schlimmer: Kurzzeitbewohner sind Fremdkörper unter den Dauerbewohnern, Integration mangels Personal kaum möglich.

Den einzigen Heimplatz, den ich anfangs dreimal hintereinander auftreiben kann, bietet ein Heim in Essen. Eigentlich ist es eine ungünstig gelegene Bruchbude mit der Bausubstanz einer Kita aus den Siebziger Jahren – kein Garten, kein nichts, nur über eine steile Zufahrt zu erreichen, die man Rollstuhl-schiebend nur halbwegs trainiert bewältigen kann. Dass die zerbeulten Zimmertüren nicht aus den schiefen Angeln fallen, ist ein kleines Wunder. Allerdings ist es auch ein kleines Wunder, wie das Personal und die Nonnen dieser katholischen Einrichtung sich um die Menschen kümmern. Trotzdem fühlt sich unsere Mutter dort nicht richtig wohl, sondern bei jeder Unterbringung mehr abgeschoben, einsam und verlassen. Nach dem dritten Mal ist Schluss, ihr Widerstand wird zu groß. Beim nächsten Mal soll es das schöne Haus an der Ruhr sein. Aber es wird dort nicht schön enden.

Mehr zum Blog "Plötzlich Schlaganfall"

Lesen Sie hier ab Dienstag, 28. Juli, die nächste Folge: Plötzlich Schlaganfall - der Glücksfall aus Polen.

Die bisher erschienenen Folgen des Blogs können Sie hier nachlesen: