Essen.. Sibylle Berg erfindet den idealen Menschen als engelsmütiges Zwitterwesen. Aber ihr neuer Roman „Vielen Dank für das Leben“ berührt nicht. Stattdessen lässt die Hauptfigur den Leser kalt. Dabei ist die Idee hinter der Figur durchaus charmant.
Da ist sie ja wieder, die Stimme Sibylle Bergs. Seit fünfzehn Jahren erzählt Berg in ihren Romanen, Bühnenstücken und Kolumnen von den Unzulänglichkeiten des Lebens - sarkastisch, wütend, traurig. „Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot“ hieß ihr Debüt, nun hat sie eine Romanfigur erfunden, die nichts mehr sucht.
Als „idealen Menschen“ beschreibt sie die Figur in einem Interview, einen Menschen, „wie ich gerne einer wäre“. „Toto“, heißt es, „Toto war so antriebslos, so ohne Ehrgeiz, dass er auch in einem Schwarm Pantoffeltierchen eine gute Figur gemacht hätte“. Und noch etwas hat Toto mit den Tierchen gemein: die Geschlechtslosigkeit.
Sybille Berg bedenkt beide politischen Systeme mit der ihr eigenen Häme
Toto wird 1966 „im sozialistischen Teil des Landes“ in die Welt geworfen, von Anfang an steht dieses Kind über allen Fragen – auch über jener, ob es nun Männlein oder Weiblein ist. Die alkoholkranke Mutter zieht mit Toto über die Dörfer, die „Verwahreinrichtungen für gestrandete Asoziale“ sind. Später kommt Toto ins Heim, noch später ins andere Deutschland.
Sybille Berg, die vor 50 Jahren in Weimar geboren wurde, in Zürich lebt und vor kurzem Schweizerin geworden ist, bedenkt beide politischen Systeme mit der ihr eigenen Häme. Allerdings gibt es für Toto im Kapitalismus verfeinerte Freuden: „Hier, im Überangebot von Joghurts mit künstlichen Aromen und Turnschuhen mit seltsamen Farbzusätzen, war es ihm ein Vergnügen, nichts wirklich zu brauchen, eine Art Erhabenheit durch Verzicht.“
Sibylle Berg schafft einen Held, der über allem steht
Warum lässt uns diese buddhistisch anmutende Heldenfigur, dieses engelsmütige Zwitterwesen nur so kalt? In ihren Kolumnen geißelt Berg den immer noch real existierenden Sexismus, nun sucht sie das Heil in der Übergeschlechtlichkeit. Eine charmante Idee in Zeiten, in denen neben Gender- längst Transgender-Debatten geführt werden.
In Toto aber fehlen die Pole, zwischen denen Spannung möglich wäre. Neben Toto brechen Welten zusammen, Toto erlebt die Berg’sche Version der Liebe, Toto wird geschlagen, leidet widerstandslos – aber das alles dient nur dazu, Bergs alte Thesen von der Unwirtlichkeit der Welt zu untermauern. Sie mag Recht haben; ihr Roman berührt nicht.
Sibylle Berg: Vielen Dank für das Leben. Hanser, 400 S., 21,90 €