Duisburg.. Wieso sind die Konzertsäle überfüllt, wenn man sich jede Art von Musik bequem herunterladen kann? Wieso gehen die Menschen ins Stadion, ins Theater, in die Oper, wenn es so viele Fernsehprogramme gibt? Das Live-Erlebnis ist und bleibt etwas Besonderes. Doch was fasziniert uns eigentlich so sehr daran?
Tausende Male hatte er diese Frau gesehen. Ihr geheimnisvolles Lächeln, ihre schmalen Augen, ihr glattes Haar, ihre zarte Nase, ihre sanft im Schoß ruhenden Hände. Jeder Faltenwurf ihres Gewandes schien ihm vertraut. Gegen Bewunderung kann sich die Mona Lisa, das wohl berühmteste Bild der Welt, nicht wehren. Auch nicht gegen Frevler, Kopisten und Banausen.
Ungezählt sind die Varianten: Mona Lisa als Punk, Puppe oder Pin-Up. Als Werbeikone, Busenwunder oder Hiphopper. Mit herausgestreckter Zunge, Baseballkappe oder Micky-Maus-Ohren. Auf Plakaten, Postern, Kalendern oder Bildschirmen ist ihr Antlitz zu sehen. Man braucht nur ihren Namen googlen und schon lächelt sie uns an. Was macht das mit uns? Was macht das mit dem Bild, mit der Kunst? Und: Warum zum Teufel besuchen jedes Jahr Hunderttausende Kunstbegeisterte den Louvre in Paris, um das Original zu sehen, obwohl wir das Abbild doch mit einem Klick zu Hause haben?
Trotz aller Möglichkeiten und trotz aller Technik – es macht offenbar einen Unterschied, Kunst im Museum oder am Bildschirm oder als Kalenderblatt zu erleben. Was ist anders an, sagen wir, einem Live-Konzert von U2, Peter Gabriel oder meinetwegen auch Casper und einer Konzert-DVD von derselben Veranstaltung? Wieso zieht es das Publikum ins Theater, um zum x-ten Male Shakespeares blutrünstiges Drama Macbeth zu verfolgen, wenn das Fernsehen doch Hunderte Programme für jeden Geschmack bereithält? Wieso sind die Fußballstadien bis unters Dach gefüllt, wenn doch jedes Spiel, zumindest übers Bezahlfernsehen, ins Wohnzimmer kommt? Kurz: Was macht die Faszination des Live-Erlebnisses aus?
"Die Menschen sind soziale Viecher"
Kunsthistoriker versuchen es mit Beschreibungen vom Wahren, Echten, Einmaligen, Guten, Unmittelbaren, das den Betrachter von Kunst erfasse. Sie reden von Ergriffenheit und Ausstrahlung. Wer je vor der Mona Lisa stand, der einzigen und echten, mag das nachfühlen können. Von einer „Aura“, die nur das einmalige Werk besitze, sprach der Philosoph Walter Benjamin, um das Phänomen auf einen Begriff zu bringen. Ronald Hitzler wird dabei ungeduldig, winkt mit den Händen, als wolle er historischen Staub vertreiben. Der Dortmunder Soziologe sagt: „Es ist die Action!“ Stupid, Dummkopf, hätte er hinzufügen können.
Hitzler ist ein umtriebiger Professor, breit, kahlköpfig, freundlich, immer in Bewegung, ein Schnelldenker und -redner. Sein Zimmer in einem Seitenflur der Universität mag ein Spiegel seiner geistigen Beweglichkeit sein, es sammeln sich darin akademische Andenken: Eine afrikanische Männerstatue neben einer Rembrandt-Kopie, ein Plakat wie aus dem Biologieunterricht mit dem Skelett eines Gorillas darauf, daneben eine japanische Bambus-Tuschezeichnung, im Regal der große Atlas der Schöpfung. Ein altes Ledersofa, Schrank und Schreibtisch komplettieren die Einrichtung.
„Dunkel hier“, sagt er, „dafür kann man hier prima Partys feiern.“ Studenten nennen ihn den „Rave-Professor“, weil er sich jahrelang unverdrossen unter die tanzenden Jugendlichen auf den großen Mayday-Partys oder den Love-Parades mischte, um deren Kultur zu studieren – und was sonst noch.
So einem Typ, einem Soziologe zumal, ist etwas wie „Aura“ suspekt. „Ja, das ist die Annäherung an das, was uns heilig ist, das Gefühl des Hohen und Wahren. Okay, das mag eine Rolle spielen. Aber doch nicht bei Konzerten oder Events, die Menschen massenhaft zusammenkommen lässt. Die Menschen sind soziale Viecher. Sie gehen dahin, wo andere auch hingehen.“ So einfach ist das? Die Suche nach Echtheit, nach Erhabenheit, nach dem Original ist nichts anderes als der Lauf der Lemminge? Egal wohin?
Der Wunsch nach Gemeinschaft
Hitzler hat ein Beispiel. „Nehmen Sie Public Viewing.“ Das ist, wenn sich Tausende Fußballfans auf der Straße treffen, um ein Spiel auf der Leinwand zu sehen.
„Die treten sich auf die Füße, sehen die Leinwand schlecht, müssen die ganze Zeit stehen. Warum gehen sie hin? Weil wir uns wohl fühlen, wenn wir nicht unter Fremden sind, sondern unter Gleichgesinnten. Ob bei der Opern-Premiere, beim Fußball, beim Karneval oder dem Weltjugendtag. Die Gemeinschaft feiert sich selbst.“ Das erzeuge die Euphorie, bei den „richtigen“ Leuten zu sein. Es ist demnach das Gemeinschaftserlebnis, das die Live-Faszination ausmacht, egal ob Louvre, Aalto-Theater oder Südtribüne? Man ist unter sich und feiert die kollektive geistige Übereinstimmung. Das Event als Kunsterlebnis und umgekehrt.
Echtheit ist nicht reproduzierbar
Walter Benjamin, der 1940 auf der Flucht vor den Nazis starb, kannte kein Public Viewing. Er sorgte sich um die Kunst, als er seinen berühmten Aufsatz über „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ schrieb. Fotografie und Film drängten die Malerei zurück oder veränderten ihre Bedeutung. Die massenhafte Vervielfältigung verändere die Wahrnehmung, befürchtete Benjamin, nehme der Kunst ihre „Aura“. Er stellte der Kopie das Original gegenüber. Seine Einmaligkeit liege im Hier und Jetzt. Nicht im Andauernd und Immerwieder. Echtheit ist nicht reproduzierbar, meinte Benjamin. Und in Zeiten des Internets, wo wirklich alles aus der Retorte stammt, scheint das entweder hoffnungslos veraltet oder sehr aktuell zu sein.
„Wenn es bei der Kunst nur um das Gemeinschaftserlebnis geht, hätten wir einen einfachen Job“, sagt Söke Dinkla. „Wir bräuchten hier nur immer etwas veranstalten.“ Dinkla ist Direktorin des Lehmbruck Museums in Duisburg und führt die Besucher lächelnd, freundlich und wohl auch ein wenig stolz durch die Ausstellung. Fast liebevoll umkreist sie Lehmbrucks Statuen. Einsam stehen die steinernen Frauen auf ihren Podesten, den Blicken ausgesetzt und doch ganz bei sich. Man darf die entblößten Körper von allen Seiten betrachten, ihre Trauer spüren, ihren Schmerz, doch sie verharren in Stille, als ob sie ewig träumten.
Das Bedürfnis nach Originalität
Söke Dinkla neigt den Kopf, dann schüttelt sie ihn leicht. Nein, Hitzlers Thesen überzeugen sie nicht: „Natürlich haben originale Kunstwerke diese Aura. Ohne sie würde es keine Museen geben“, ist sie überzeugt. „Die Besucher haben das Bedürfnis nach Originalität, nach Echtheit. Klar, da ist bei berühmten Namen auch Starkult dabei, doch es gibt die Aura des Echten.“ Aber was ist das? Was ist es, das die Menschen suchen und ergriffen macht? Es lässt sich nicht sagen.
Manche Menschen, wie der sagenhafte Kunsterbe Cornelius Gurlitt, haben eine besondere Beziehung zu ihren Bildern. Wenn Gurlitt allein war, sprach er mit seinen Chagalls, Picassos und Beckmanns, schaute sie jeden Tag an, es waren seine Freunde, seine Lebensbegleiter, seine Lebenslieben. Geht das auch mit Kopien? Mit Postern? „Es gibt einen Rest im Kunstwerk, der sich nicht mit Worten beschreiben lässt. Das kann nur das Original. Das ist ja das Schöne an der Kunst. Und das kann man spüren“, sagt Dinkla.
Was passiert, wenn wir ein Bild betrachten oder ins Konzert gehen? Man ist sicher anders berührt als von einer Kopie. Alle Sinne werden angesprochen, man fühlt, schmeckt, sieht und hört die Musik, die Luft, die Vibrationen, die Lichter, die Menschen, die Gerüche, die Begeisterung. Es ist eine Ganzkörpererfahrung: Der Bass lässt das Zwerchfell beben, der Gesang macht eine Gänsehaut, die Scheinwerfer erzeugen einen Lichterrausch, der Rhythmus fährt in die Beine. Und zugleich ist man Zeuge dieses ganz speziellen Augenblicks, in dem die Musik und das ganze Ereignis entsteht. Man ist unter sich und Seinesgleichen und alle sind gleichermaßen begeistert. Das ist Glück. „Ja, natürlich stiftet dieses Glück auch Gemeinschaft“, überlegt Söke Dinkla. „Es schafft Erlebnisse, die im Gedächtnis bleiben, weil es starke ästhetische Momente sind.“
Aura oder Action? Was macht das Live-Erlebnis aus?
Ob Bayreuth oder die Beatles, ob Salzburger Festspiele oder Dortmunder Mayday-Party – darauf komme es nicht an, beharrt Hitzler. „Es ist gar nicht so anders, nur die Ausprägung ist unterschiedlich“, sagt der Soziologie-Professor. In beiden Fällen treffen sich Menschen, die dasselbe erleben wollen. Es ist nicht Aura, sondern Action, was die Menschen suchen.
Denn die Aura ist nicht in dem Ding selbst, also in der Mona Lisa oder dem Engel von Barlach, sondern im Kopf des Betrachters, meint Hitzler. Damit ein Kunstwerk ganz für sich selbst uns berühren kann, muss man wissen, was man betrachtet. „Dann wirkt die Aura und man glaubt, sie ist in dem Ding. Aber das ist ein Irrtum. Wenn ich nicht weiß: Das ist Leonardo da Vincis Mona Lisa, dann passiert gar nichts.“ Die Aura steckt also nicht in der Kunst, sondern in unserem Wissen darüber. Je mehr ich darüber weiß, desto besser fühle ich mich.
Werke, die Kinder berühren
Söke Dinkla, die Kunsthistorikerin, kann dem nur teilweise zustimmen. Sie findet, dass das Wissen über die Hintergründe, über das Leben des Künstlers, über Daten, Epochen und Biographien oft zwischen dem Betrachter und der Kunst liegt. „Gute Kunst kann immer unmittelbar wirken“, ist sie überzeugt. Das erlebe sie oft, wenn Schulklassen ins Museum strömen. Manche Bilder oder Werke – vor allem, wenn sie beweglich sind – berührten die Kinder spontan, anderes lasse sie kalt. Und das sei auch in Ordnung so. „Es kann passieren, dass nichts passiert.“
Sie sieht ihr Museum als Schule des Lebens, das die Menschen lehren kann, zu sehen, die Augen zu öffnen und dadurch zu verstehen. Nicht nur das Bild, die Musik oder die Skulptur oder was immer, sondern etwas über sich selbst und die Welt – im besten Falle. „Es ist merkwürdig“, erzählt sie. „Wenn die Menschen in unser Haus kommen, gehen sie plötzlich langsamer als draußen, sprechen leise, sehen sich vorsichtig um. Das Museum ist ein Ort der Entschleunigung, ein Ort der Ruhe und des Schauens.“
Hauptsache, es passiert etwas
Aber Hitzler reicht das alles nicht, das erkläre überhaupt nicht, warum die Leute in Massen Orte aufsuchen, wo etwas los ist. „Was wollen wir? Wir wollen mit anderen zusammen sein.“ Museum, Konzertsaal oder Stadion – jeder nach seiner Fasson. Hauptsache, andere sind auch schon da und es passiert etwas. Das Ästhetische kann der Anlass, muss aber nicht die Ursache sein für ein Glückserlebnis.
Und dann steht unser Mona-Lisa-Fan endlich im Louvre vor dem legendären Gemälde, dem einzigen und echten und sieht – nichts. Wo bleibt der Schauer der Erhabenheit, der Funke des Glücks, die auratische Begeisterung? Alles fortgeschubst und weggedrängt von den Massen, die sich vor dem Bild drängen, quatschen und ihre Handys zum Foto recken. Der heilige Moment im Angesicht des Meisterwerks, den er sich ausgemalt hat – perdu. Jegliche innere Einkehr verschwindet im Geplapper und Geschubse der Museumsbesucher, die alle das gleiche suchen und es auch nicht finden. Die Aura? Verflogen. Aber im Hinausgehen wich langsam die schwelende Enttäuschung und er musste lächeln: Ich war dabei!
Mit Teenagern ins Museum – ein Selbstversuch
Verdrehte Augen und ein genervtes „Och nööö!“ erntet man ganz sicher, wenn man Teenies einen Besuch im Museum vorschlägt. Auch wenn der Sonntag noch so langweilig, verregnet und öde ist – das Museum ist echt das Letzte. Selbst der im Anschluss versprochene Besuch beim Lieblingsitaliener lässt den Unwillen nur unmerklich sinken. Doch mangels Alternativen – im Kino lief nichts – ließ der Widerstand nach und so machten sie sich schließlich auf ins Folkwang-Museum, der Vater, seine 16-jährige Tochter und ihre 17-jährige Freundin. Zu sehen gab es monumentale Skulpturen, Thomas Schüttes „Frauen“.
„Boah“, entfuhr es spontan der Tochter. Dann gingen die Mädels schweigend und staunend um die Figuren herum. Schwellende Frauentorsi aus rostigem Stahl, silbrigem Beton, glänzender Bronze oder glattem Kunststoff. Überlebensgroß, in anmutiger Haltung oder leidend gebückt, mit sich selbst verschmelzend oder in rufender Pose, provozierend nackt oder trotz ihrer Größe und Blöße furchterfüllt. Körper, die Geschichten erzählen, vielleicht von Liebe, Schmerz und Stolz – oder was man darin finden will, wenn man hinhören, hinschauen mag.
Der Vater hätte erwartet, dass die beiden Mädchen bald gelangweilt „Was soll denn das?“ seufzen. Haben sie aber nicht. Sie waren still, trennten sich auf, um nach eigenem Tempo und Geschmack die Statuen zu umkurven, guckten, schwiegen.
Die Kunst hatte sich in ihre Köpfe gesetzt. „Warum hat er das so gemacht?“ fragte eine schließlich. Suchende Antworten gaben sie sich gegenseitig. „Die Bronzefrau fand ich am besten“, sagte die 17-Jährige. Warum? „Ich weiß nicht. Manchmal fühle ich mich auch so.“ Aus Metall? „Nein, wie sie so dasitzt. Gebückt, der Kopf nach vorne am Boden, Arme nach hinten. Das Gefühl kenne ich, glaube ich.“ Was für ein Gefühl? „Weiß nicht. So ein Gefühl eben.“ Und du? „Ich mag die sitzende Frau am liebsten“, meinte die 16-Jährige. Es ist eine Figur aus rostrotem Stahl, der Oberkörper aufrecht, im Haar eine fremdartige türkisfarbene Blume, der Unterleib ist von weichen Falten umgeben, wie ein schweres Gewand oder wie ein großes schnecken- oder schlangenartiges Tier. „Und wieso?“ „Sie ist anders und stolz, glaube ich. Und traurig.“
Muss man den Künstler verstehen?
Muss man den Künstler verstehen? Muss man herausfiltern, was er sagen will? Es ist wie mit Musik. Sie berührt, oder berührt nicht. Vielleicht gibt es einen Widerhall, ein Wiedererkennen, vielleicht auch bleibt alles fremd. Manchmal beginnen innere Saiten zu schwingen, manchmal nicht. Das kann man spüren und es klingt nach und macht etwas.
Und dann ist es genug. Noch kurz Manets „Lisa“ begrüßt, wie jedes Mal, dann zum Ausgang. Im Rausgehen sagte die Tochter: „War eigentlich doch ganz Okay.“
Und nun zum Italiener.
Das Museum Folkwang in Essen zeigt Thomast Schüttes „Frauen“ aus Bronze, Stahl oder Aluminium noch bis zum 12. Januar.