Essen. Lange traute man sich kaum, Fernreisen, Konzerte oder Silvesterfeten zu planen. Doch jetzt fassen viele Mut. Warum wir Pläne fürs Leben brauchen.
Das Jahr 2020 wird für viele auch als Jahr der gescheiterten Pläne in die Geschichte eingehen: Die einen mussten den langersehnten Neuseeland-Trip mit dem Wohnmobil auf unbestimmte Zeit verschieben, statt nach Wellington ging’s für manche ins Weserbergland. Anderen freuten sich auf Auslandssemester – und saßen daheim am Rechner in Video-Vorlesungen. Statt Partys, Clubs und Festivals gab’s in den Lockdown-Monaten Couch und Netflix. Und der private Terminkalender, den man vorher brauchte, um mit den vielen Freizeitterminen zu jonglieren und das Optimum an Spaß herauszukitzeln? Den musste man gar nicht erst aufschlagen.
Ed Sheeran bringt Massen zusammen
Auch interessant
Doch derzeit, dank der Impfungen und mit dem Wegfall vieler Corona-Beschränkungen in der bisher noch moderaten vierten Welle, merkt man so etwas wie ein kollektives Luftholen in der Gesellschaft: Plötzlich werden wieder Konzerte in den großen Fußballstadien angekündigt – und ausverkauft. Die Planungen für die Karnevalssession laufen, Fernreisen rücken wieder in greifbare Nähe, es lohnt sich plötzlich doch noch, Kalender und Stift zu zücken – und mal grob zu planen, was im Jahr 2022 auf uns zukommt.
Dass ausgerechnet ein musikalischer Gutelaunemacher wie Ed Sheeran der Vorbote dafür wird, dass wir wieder optimistischer nach vorne sehen, kann dabei eigentlich kaum überraschen: Der rotschöpfige Superstar traut sich nicht nur, im kommenden Juli die Arena Auf Schalke zu füllen, er hat sogar schon den ersten Abend ausverkauft – und zwei Zusatzshows angekündigt. Was bedeutet, das pro Abend mehr als 50.000 Menschen zusammenkommen. Da darf man träumen, man könnte feiern, als wär’s 2019!
„...dass die Lust in der Bevölkerung ungebrochen ist.“
„Der rekordverdächtige Vorverkauf der Mathematics-Tour von Ed Sheeran ist dafür nur ein Zeichen“, sagt Stephan Thanscheidt (44) vom zuständigen Hamburger Tourveranstalter FKP Scorpio und gibt sich optimistisch: „Als europaweit tätiger Kulturveranstalter blicken wir mit Zuversicht auf die kommenden Wochen und Monate und gehen davon aus, dass selbst Großveranstaltungen im kommenden Jahr ohne Einschränkungen möglich sein werden“, sagt er. Er teilt die Ansicht vieler Politiker, dass wir in Deutschland die Pandemie „spätestens im März 2022 komplett hinter uns gelassen haben werden“ – auch dank der jüngst um fünf Prozentpunkte nach oben korrigierten Impfquote. Schon im Oktober und November veranstaltet seine Firma Festivals an der Ostsee und beobachtet, „dass die Lust in der Bevölkerung ungebrochen ist.“
Zumindest für einige Events in der Zukunft ist das richtig. Auf den Kleinkunstbühnen und bei kleineren Konzerten herrscht derzeit meist noch Zurückhaltung – mit Auslastungen von 25 bis 30 Prozent in den Sälen. Wer also schon immer dachte, dass ihm viele Hallen eigentlich zu gut gefüllt sind, hätte jetzt die Gelegenheit, Künstler mit viel Raum zu sehen.
Entspannung auch in der Reisebranche
Wie wichtig Pläne in unserem Leben sind und wie frustrierend es sein kann, wenn man sie nicht umsetzen kann, haben sehr viele Menschen im vergangenen Jahr zur Genüge erfahren. „Das mündet auf jeden Fall in eine Art Depressivität“, sagt Marlies Pinnow, die an der Ruhr-Universität Bochum den Arbeitsbereich Motivation der Fakultät für Psychologie leitet. „Wir reden dabei oft von unerledigten Absichten. Und wir wissen, dass die unerledigten Absichten viel heftiger im Gedächtnis haften bleiben als die erledigten.“ Wichtig sei in solchen Situationen, dass das Gefühl der Selbstwirksamkeit erhalten bleibt, damit die Frustration nicht die Oberhand gewinne.
In der Phase der Lockdowns stellte die Unmöglichkeit, Pläne umzusetzen, zunächst für manche eine Erleichterung dar, für sie setzte neben dem Vermissen auch ein Freiheitsgefühl ein – das aber schnell wieder verflog, dafür waren die Einschränkungen zu einschneidend und ihr Ende nicht abzusehen.
Eine deutliche Entspannung ist derzeit in der Reisebranche zu spüren: Mit dem Wegfallen der Einreiseverbote in Länder wie USA, Thailand, Israel, Kuba oder Kanada ist die Welt im kommenden Jahr für viele nun wieder ein Stückchen größer geworden – auch wenn niemand ohne Reiserücktrittsversicherung so einen Trip planen wird. Vor wenigen Tagen meldete der Airport Weeze, dass sich die Zahl der Passagiere in den Herbstferien auf Vor-Corona-Niveau befindet – eine Erholung der Flugbranche, die sicherlich den Klimaschützern nicht gefallen wird.
Die Gastronomie braucht noch Zeit
An anderen Orten herrscht ebenfalls Aufbruchstimmung: Die Karnevalisten sind narrenfroh, dass sie überhaupt wieder feiern dürfen – und planen wie jeck ihre Session, die am 11.11. beginnt, egal ob mit 2G oder 3G. Fest steht jedenfalls, dass in diesem Jahr erstmal alle erleichtert sind, wenn sie nicht zusätzlich zum Kostüm noch eine Maske tragen müssen, denn mit dem wattierten Schnäuzchen vor Mund und Nase lassen sich schlecht Kurze kippen. Und eines ist klar: Ungeschütztes Bützen geht diesmal gar nicht.
Dass der Planungshorizont in der Bevölkerung noch eher aufs nächste Jahr fokussiert ist, lässt sich derzeit an der Lage der Gastronomie ablesen. „Unser Eindruck ist, dass viele Buchungen, wenn möglich, immer noch kurzfristig getätigt werden. Dafür gibt es unseres Erachtens zwei Gründe: zum einen die Lehren aus Corona, die Planungen sehr schwierig gemacht haben, zum anderen insgesamt eine gesellschaftliche Tendenz, sich möglichst spät festzulegen“, sagt Thorsten Hellwig vom Hotel- und Gaststättenverband Dehoga Nordrhein-Westfalen. „Das Jahresendgeschäft mit Weihnachten und Silvester wird in diesem Jahr zwischen 2019 und 2020 liegen. Nicht so dramatisch schlecht wie 2020 – mitten im Lockdown, aber auch nicht so gut wie in den Jahren vor Corona. Allerdings hoffen wir, dass es in den kommenden Wochen noch zu mehr spontanen Reservierungen von Privat- oder Firmenfeiern kommen wird.“ Er erspäht darin einen positiven Aspekt für die Kurzentschlossenen. Hellwig: „Die Chance war noch nie so hoch, in einer Location, die normalerweise im Sommer schon ausgebucht ist, jetzt noch Plätze zu ergattern.“