Essen. „Nie wieder Krieg“ heißt das mittlerweile 13. Album der Indierock-Band Tocotronic. Mehr denn je klingen sie wie sie selbst – und wie Propheten.
Den Titelsong der neuen Platte, „Nie wieder Krieg“, schrieb Dirk von Lowtzow, Sänger, Texter und Hauptkomponist von Tocotronic, ausgerechnet im friedlichen und idyllischen Luzern. Nach der Tour zum letzten Album hielt er sich, ermattet, eine Weile am Vierwaldstätter See auf und ging viel am Ufer spazieren. „Irgendwann kamen mir dabei diese Zeilen in den Sinn“, sagt der 50-jährige gebürtige Offenburger, als wir ihn von Angesicht zu Angesicht (was gerade selten ist) in seiner Wahlheimatstadt Berlin treffen. Inspiration für das Lied sei „ein persönliches Empfinden von Leiden, Einsamkeit und Zweifel“ gewesen, so von Lowtzow.
In den Zeilen gehe es um Menschen an „Kipppunkten oder Drehkreuzen ihrer Existenz, die unter einer starken inneren Zerrissenheit leiden oder damit umzugehen versuchen.“ Fein beobachtet und seziert der Sänger hier die kleinen Dramen von Menschen, die im Krieg mit sich selbst stehen. Dann geschahen, die Liste ist sehr unvollständig, Corona, Kapitol-Erstürmung, Afghanistan, Putin. „Und wenn man den Song jetzt hört, wirkt er fast wie ein Abwehrzauber, wie ein Exorzismus. Mittlerweile beschleicht mich das Gefühl, dass die Feindschaft aller gegen alle unsere Gesellschaft immer stärker prägt. Es ist ja längst nicht ausgemacht, dass das Schlimmste, in vielerlei Hinsicht, hinter uns liegt.“
Auf „Nie wieder Krieg“ klingen Tocotronic so sehr nach Tocotronic wie noch nie
Tocotronic sind nun ohnehin nicht dafür bekannt, Musik für die unbeschwertesten aller Lebensmomente zu liefern. Doch das Weltgeschehen, insbesondere das pandemische, hat den zwölf seit mehr als einem Jahr fertig aufgenommen neuen Stücken, zusätzliche Relevanz verschafft. Auch „Hoffnung“, ein akustisches, eher ruhiges Stück Musik fällt in diese Kategorie. Geschrieben 2018 „gegen die Vereinzelung“, wie Dirk singt, hat das – im April 2020 kurzfristig veröffentlichte – Lied eine unerwartete Zusatzbedeutung bekommen. „Doch sich selbst in den Stand eines Propheten versetzen, wäre mir zu eitel“, so Dirk von Lowtzow.
Tatsächlich treffen diese vier Musiker seit den Anfangstagen mit Slogan-Songs wie „Ich will Teil einer Jugendbewegung sein“ oder „Aber hier leben, nein danke“ immer wieder den Nerv des überdurchschnittlich reflektierten Publikums. Auf „Nie wieder Krieg“ nun klingen Tocotronic so sehr nach Tocotronic wie vielleicht noch nie. Es gibt auf der zum sieben Mal in Folge von Moses Schneider produzierten Platte introvertierten Folk wie in „Hoffnung“, eine zärtliche Nahtoderfahrungsliebesballade wie „Ich tauche auf“ (die zudem das erste Duett der Bandgeschichte ist, die Österreicherin Anja Plaschg aka Soap&Skin harmoniert stimmlich betörend mit Dirk) aber auch recht räudiges, live in den „Hansa Studios“ eingespieltes Rockmaterial. „Nachtflug“ zum Beispiel.
Eine Liebeserklärung von Lowtzows an die Skater-Szene in Kreuzberg und Neukölln
Einer der Höhepunkte ist das berauschende „Jugend ohne Gott gegen Faschismus“, eine Quasi-Liebeserklärung von Lowtzows an die Szene der unangepassten, kritischen Skater*innen in Kreuzberg und Neukölln, denen er sehr gerne zuschaut. „Das ist so ein klassischer Attitüde-Song“, sagt er. „Ein Knaller“.
Auch der Witz kommt nicht zu kurz. „Ich hasse es hier“, an sich kein lustiges Lied über das Verlassenwordensein, regt mit einem Protagonisten, der sich eine Tiefkühlpizza mit „Kräuter der Provence“ und Dosenchampignons aufpeppt, zu einem gepflegten Lachanfall an. Dirk von Lowtzow: „Ich finde das ein schönes Bild für die totale Enttäuschung und eine Metapher für ‚Es gibt kein richtiges Leben im falschen‘. Eine Tiefkühlpizza bleibt immer eine Tiefkühlpizza.“
Und selbst der „Liebe“ steht Tocotronic eher ambivalent gegenüber. „Es ist ein düsteres Happy End. Weil die Liebe, wie sie in dem Stück beschrieben wird, auch etwas Unheimliches hat. Sie wirkt fast wie eine Gehirnwäsche. Insofern ist diese Liebe nicht ungefährlich, aber das sollte Liebe vielleicht auch nicht sein.“ Im Englischen, so von Lowtzow, „sagt man ja auch „to fall in love“. Wenn es wirklich Liebe ist, muss man schon in einen gewissen Abgrund fallen.“