Lüdenscheid. Seit Beginn der Pandemie mussten die Musikschulen in der Region erfinderisch werden. Lehrer setzen vermehrt auf Online-Unterricht. Ein Selbsttest.
Spätestens als ich eine Gitarre vererbt bekommen habe, wollte ich das Spielen endlich lernen. Schon in meiner Kindheit hatte ich damit geliebäugelt, aber mehr als Blockflöte war dann doch nicht drin.
Das Erbstück hielt lange Zeit mehr als Dekoelement denn als Spielutensil her – bis jetzt. Denn Pandemie und Lockdown verschafften mir vor allem eines: Zeit. Höchste Zeit also, den lange gehegten Traum zu verwirklichen.
Musikschulen bieten online Unterricht an
Dabei hilft mir Katja Fernholz-Bernecker, Leiterin der Musikschule der Stadt Lüdenscheid. Normalerweise würde der kilometerlange Fahrtweg ins Sauerland meine Motivation gleich wieder zunichte machen. Aber die Musikschulleiterin schaltet sich via Zoom direkt an meinen Schreibtisch. Gitarre lernen in den eigenen vier Wänden? Komfortabel!
Seitdem kein Präsenzunterricht mehr möglich war, griffen Leiterin und Lehrer vermehrt aufs Internet zurück, so wie viele Musikschulen in der Region. „Digital arbeiten wir schon länger, unseren Musikunterricht online anzubieten, war allerdings eher eine Ausnahme“, erklärt Fernholz-Bernecker. Seit Corona hat sich das geändert. Statt in der Musikschule begrüßt die Gitarrenlehrerin ihre Schüler zweidimensional. Auch mich.
Das schönste und essenziellste Instrument
„Die Kamera bitte etwas tiefer stellen, damit ich das Instrument sehen kann.“ Kein Problem. Geht’s jetzt los? Katja Fernholz-Bernecker lächelt. „Jetzt möchte ich erst einmal wissen, was finden Sie besonders schön an der Gitarre?“ Das ist der Dortmunderin wichtig, „damit ich weiß, in welche Richtung wir den Unterricht gestalten.“
Für mich ist es das schönste und essenziellste Instrument, erkläre ich ihr – Fernholz-Bernecker gibt mir recht. Die 53-Jährige hat die Gitarre acht Jahre lang an der Folkwang Universität der Künste in Essen studiert. Drei Abschlüsse hat sie. Seit 28 Jahren trägt sie ihr Wissen an der städtischen Musikschule weiter.
Die Gitarre in all ihren Facetten
„Wir lernen jetzt die Gitarre in all ihren Facetten kennen. Man kann zum Beispiel Melodien spielen“ – Fernholz-Bernecker greift in die Saiten – „oder Akkorde. Wir lernen beides. Damit man das Instrument von Grund auf versteht.“
Aber erst einmal muss die Gitarre gestimmt werden: „Die Saiten der Reihe nach durchspielen, angefangen bei der dünnsten.“ Überraschend: „Das hört sich für die erste Stunde schon ganz passabel an, können wir so nehmen.“ Glück gehabt, ein Stimmgerät besitze ich nämlich nicht. Fernholz-Bernecker winkt ab. Es gibt kostenlose Apps, die ein solches Gerät prima ersetzen.
Zupfen fürs Gefühl
Brauche ich aber nicht, deshalb geht’s direkt mit dem Saitenzupfen weiter. „Um erst einmal ein Gefühl dafür zu bekommen: Mit dem Daumen die dritte Saite anzupfen, viermal.“ Danach sind alle übrigen dran. Fürs Gefühl. Erst einzeln, dann alle zusammen, die Hand dabei zur Faust geballt, nur der Daumen streicht über die Saiten.
Dann kommt die Greifhand ins Spiel. Anders als beim Spielen über dem Schallloch zählt hier der Daumen nicht mit. Der Zeigefinger ist die Nummer eins, Mittelfinger Nummer zwei und so weiter. „Den ersten Finger auf die dritte Saite im ersten Bund. Den zweiten Finger auf die fünfte Saite im zweiten Bund. Und den dritten auch in den zweiten Bund auf die vierte Saite.“
Eine Akkord – viele Finger
Hört sich komplizierter an als es ist. Ohne Gucken geht’s aber nicht. Die drei Finger presse ich fest an den Gitarrenhals, das wiederum ist gar nicht so einfach. Aber meine Lehrerin ermuntert mich schnell: „Das sieht super aus, sie haben eine sehr gute Haltung. Naturtalent?“ Ich lache etwas ungläubig.
„Jetzt probieren Sie mal aus, wie es klingt.“ Schrecklich. Krumm und schief, finde ich. „Die Finger müssen erst einmal lernen, richtig zuzudrücken.“ Gar nicht so einfach, es erfordert Kraft. Und auf Dauer sicher Hornhaut. Nun soll ich alle Finger eine Etage tiefer setzen.
A-Moll und E-Dur in zehn Minuten
Auch da muss ich mindestens zweimal hinschauen. „Super, jetzt haben Sie schon zwei Akkorde gelernt“, freut sich die Lehrerin. A-Moll und E-Dur. Und dabei sind noch nicht einmal zehn Minuten vergangen. Ich sehe mich schon als weiblichen Jimi Hendrix die Bühne rocken.
Nun soll ich beide im Wechsel spielen. Fernholz-Bernecker macht es vor, es hört sich wunderbar melodisch an – ganz anders als mein Saitenspiel. Jetzt wünsche ich mir zum ersten Mal, dass sie nicht Kilometer weit weg sitzt, sondern direkt vor mir.
Digitales Miteinander freut die Schüler
„Klar, ‘mal eben zeigen’ geht schneller als stundenlanges Erklären. Manchmal müsste man besser haptisch korrigieren“, räumt sie ein. Generell sei es etwas schwierig, mit Anfängern online zu starten. Mit der Gitarre durchaus machbar, aber Blasinstrumente beispielsweise spielten in einer ganz anderen Liga. „Da muss die Korrektur ganz anders erfolgen als es so möglich ist.“
Die Schüler aber freut das digitale Miteinander, erklärt sie weiter. „Viele Schüler sagen uns, dass sie es toll finden. Sie können zuhause sitzen, müssen sich nicht mehr extra in den Bus oder ins Auto setzen. Aber demgegenüber steht das gemeinsame Musizieren. Ich habe hier ein ganz leeres, ruhiges Haus. Das passt nicht zusammen.“
Präsenzunterricht wieder möglich
Mittlerweile ist Präsenzunterricht wieder möglich. Schülerinnen und Schüler müssen einen Negativ-Test vorweisen, geimpft oder genesen sein, um gemeinsam musizieren zu können.
Ganz verschwinden soll der Onlineunterricht nach dem Lockdown nicht, wenn es nach Fernholz-Bernecker geht. „Vielleicht als zusätzliches Angebot. Ansonsten sollten wir aber Präsenzunterricht den Vorrang geben. Aber es war eine gute Hilfestellung, um weiterzumachen.“ Und für mich endlich die Gitarre aus der Ecke zu holen.
„Yellow Submarine“ in der 1. Stunde
Und so geht unser Unterricht voran. Nach ein paar weiteren Übungen und ganz viel Einfühlungsvermögen seitens meiner sehr geduldigen Lehrerin darf ich endlich eine kleine Melodie spielen: die Begleitakkorde zu „Yellow Submarine“. Auch dabei höre ich zwar lieber der 53-Jährigen zu, aber mein Versuch ist zumindest als Beatles-Klassiker erkennbar.
Weil wir bei all dem Quatschen nicht mehr viel Zeit haben, erklärt mir die Musikschulleiterin, wie eine normale Stunde ablaufen würde: „Gleichzeitig zu den Akkorden würde ich Ihnen die Noten beibringen. Wie schreibe ich die verschiedenen Gitarrensaiten in Notenform auf?“
Musik kennt kein Alter
Ein weiterer Baustein, das Melodiespiel zu lernen. Schnell merke ich, dass es gar nicht so einfach ist, sich mal eben die Akkorde zu merken. Bin ich vielleicht schon zu alt, um ein Instrument zu erlernen? Fernholz-Bernecker schüttelt den Kopf: „Musik kann man in jedem Alter erlernen.“
Zwar hätten es Kinder einfacher als Erwachsene, weil Kinder wesentlich unbefangener an die Sache gehen, doch auch Rentner in der Musikschule seien keine Seltenheit. „Das ist für viele Leute die Gelegenheit, ihren Kindheitstraum zu verwirklichen.“
Wacklige Version von „Merrily We Roll Along“
Da habe ich ja noch ein bisschen Zeit ... Ich freue mich, dass ich nach unserer Stunde eine wacklige Version von „Merrily We Roll Along“ spiele, was ich auch stolz meiner Familie präsentiere. Danach übe nicht nur ich weiter an meinem Gitarrenspiel, sondern meine Familie auch an ihrem Enthusiasmus.
>>> Info: Mehr Infos zur Musikschule der Stadt Lüdenscheid: www.luedenscheid.de. Infos zu Musikschulen in der Region und ihr Angebot gibt’s beim Landesverband der Musikschulen in NRW unter www.lvdm-nrw.de.