Mr. Mercedes, der Bösewicht des gleichnamigen Thrillers, ist eigentlich ein Pflegefall. Aber für „Mind Control“ gibt Stephen King im telepatische Kräfte.
Was wäre die Horror-Industrie dieser Welt ohne eine Großmutter-Weisheit, die jedes globale Dorf kennt: „Totgesagte leben länger“. Stephen King, der Anspruchsvolle unter den schauereinjagenden Geschichtenerfindern, trägt sein Scherflein bei. Brady Hartsfield, der uns treuen Lesern, zwar ein Monster schien, aber nach der beherzten Attacke einer rettenden Damenhand doch kaum mehr als 90 Pfund geistlosen Puddings in neurologischer Langzeitbetreuung, jedenfalls ist zurück.
Es ist ein bisschen peinlich, das zuzugeben, aber: Danke, Stephen, diesen Mistkerl mit Insel-Begabung noch einmal zum Finsterling jener Kleinstadt zu machen, die Brady 2014 in die unterhaltungsliterarischen Nachrichten gebracht hatte. Der verhaltensgestörte Knabe fuhr nämlich mit einem alten Benz die phlegmatische Schicksalsgemeinschaft einer amerikanischen Jobbörse tot. Zum Spaß. Das war Kings „Mr. Mercedes“.
So gesehen, hat Kings jüngster Roman bereits zwei Vor-Geschichten (die andere ist „Finderlohn“, 2015). Doch neigt der Autor, wie Richard Wagner im Nibelungenring, nicht dazu, Quereinsteiger im Regen der Unwissenheit stehen zu lassen. Auch Neulinge erfahren nebenbei, was bisher geschah.
Amerikanische Ur-Angst
In „Mind Control“ (Kontrolle über den Verstand) rührt King an einer alten amerikanischen Ur-Angst. Ja, es gab Zeiten, da hatte die Bevölkerung zwischen Kansas und Wisconsin vor etwas noch mehr Angst als vor dem Russen. In den 1950ern lebte ein ganzes Filmgenre davon: Das Böse schleicht sich ins Innere braver US-Steuerzahler und macht sie zu monströsen Marionetten. Doch King aktiviert kein „Ding aus einer anderen Welt“. Der Nerd Brady, besagter Totgesagter, wird telepathisch aktiv, macht Chefärzte zu Handlangern. Und da Selbstmord „sein Hobby“ ist, spinnt er vom Klinikum aus an seinem Großprojekt: Scharen von Leuten mögen sich zu seiner Freude das Leben nehmen...
Die Dreistigkeit, mit der Stephen King, auch im neuen Roman alle Hürden von Logik und Wahrscheinlichkeit nimmt, lieben Fans als Freibeuter-Konstante im Ozean des Fiktionalen. Diesmal taugen dem Bestseller-Schöpfer uralte Spielkonsolen, aus Menschen Monstern zu machen. Kulturkritik? Niemals, bloß ein hübsch geschlagener Haken, den Teufel als Trödelware auftreten zu lassen.
Satter Spannungsbogen
Zuverlässig auch Kings wache Zeitgenossenschaft, die noch mit dem ärgsten Entsetzen Spaß treibt. Dann etwa, wenn er Oberschwester Scapelli über den Massenmörder und Pflegefall Brady sinnieren lässt: „Da sitzt er: Die Mahlzeiten werden ihm von seinem Personal serviert, man wäscht ihm seine Kleidung und rasiert ihm das Gesicht. Dreimal pro Woche bekommt er sogar eine Massage. Er besucht viermal pro Woche das Wellnesscenter, wo er sich dann im Whirlpool aalt. Ein Leben wie Donald Trump?“
„Mind Control“ ist ein guter King: satter Spannungsbogen, vielperspektivisch gebaut, gebettet in jenen Alltag Amerikas, in dem die böse Überraschung traditionell zu Hause ist. Und es ist das letzte Wiedersehen mit dem kranken Cop Hodges. Wenn Helden wie er gehen, kommt auch King nicht ums Kitsch-Finale herum. Es spielt auf dem Friedhof, was im Fall dieses Autors erfahrungsgemäß nicht zwangsläufig das Ende bedeutet.
Stephen King: Mind Control. Heyne Verlag. 528 Seiten, 22,99 Euro