Bochum. „Schande“ nach J.M.Coetzee am Bochumer Schauspielhaus ist eine Inszenierung mit höchster Dringlichkeit, mit genialen Bildern und Effekten.

Wer aus diesen etwa 110 Theaterminuten unbewegt hinausgeht, fühlt nicht mehr viel: „Schande“ in der Regie von Oliver Frljić wuchtet nicht einfach den gleichnamigen Roman von J.M. Coetzee auf die Bühne – die Inszenierung durchdringt vielmehr die ungeheure Vielschichtigkeit von Rassismus mit Hilfe des Buchs, das ja selbst unter Rassismus-Verdacht steht. Am Ende wird sich das Stück sogar selbst unter den Verdacht des Rassismus stellen und es wird klar, dass er eine systemische Eigenschaft ist, die niemand durch bloßen (guten) Willen loswird.

Eine Welt aus Käfigen

Aber es ist eben auch eine bildgewaltige Inszenierung im Bochumer Schauspielhaus, die mit wirklich allen Mitteln spielt, die das Theater des 21. Jahrhunderts bietet. Allein was sich im Bühnenhintergrund zeitweilig an Bildern ereignet, zitiert nicht nur große Kunst, sie ist es auch (Bühne: Igor Pauška/Lichtdesign: Wolfgan Macher). So reduziert, aber höchst sinnfällig die gesamte Handlung (und ihre Reflexion) von nur vier Menschen auf der Bühne gespielt wird, so wunderbar sinnbildlich ist das pausenlose Spiel mit Käfigen. Mal zweien wie zu Beginn, wenn irgendein Zuschauer Amina Eisner und Victor IJdens erst mal befreien muss, damit das Spiel beginnen kann – mal mit Dutzenden in einer ganzen Wand von Käfigen, die mit Hilfe der Hebebühne in den Himmel wachsen.

Blackfacing und das deutsche Cover von Coetzees „Schande“

Zunächst gibt es Besetzungs-Diskussionen. Gastschauspielerin Amina Eisner aus Berlin stellt fest, dass sie gezielt als schwarze Frau für „Schande“ angeheuert wurde und sie es sich gar habe nicht leisten können, das Engagement abzulehnen. Außerdem gibt es einen Kurzvortrag über Blackfacing (auch wenn man über das Cover der deutschen Ausgabe von „Schande“, dass ein weißes, halb geschwärztes Frauengesicht zeigt, vielleicht etwas differenzierter diskutieren müsste). Jedenfalls geht es hier um das Buch und seinen gesellschaftlichen Zusammenhang mindestens so sehr wie um seine Fabel. Es geht auch um Fragen von naiver, bloß identifikatorischer Lektüre, die Vielschichtigkeit von Literatur – und ihre mehr oder weniger durchideologisierte Verwendung als Universitäts-Lehrstoff, um Machtgefälle und Gegenstrategien, um die Frage, ob Coetzees Buch rassistisch sei oder Rassismus darstelle, und um Cancel-Culture: „Was sollen wir nun mit dem Buch machen? Verbrennen?“

Die Story um den arroganten Literaturdozenten und leidenschaftlich liebevollen Vater David Lurie (der von allen drei Männern auf der Bühne wechselweise verkörpert wird), seinen Vergewaltigungsskandal und seine Tochter ist nur der Tisch, auf dem aus wechselnden Perspektiven Rassismus mit all seinen Doppelbödigkeiten verhandelt wird – inklusive der Gefahr, dass er als Modethema bald schon von den Bühnen verschwunden sein wird und schwarze Schauspielerinnen wie Amina Eisner so selten Arbeit finden wie zuvor.

Worte von Amina Eisner – oder von Oliver Frljić?

Zwischendurch werden die Zuschauer in einen Reflexions-Dialog mit den Mimen hineingezogen, ohne dass es ein Ergebnis geben könnte. Dann geht das Spiel weiter, intensiv – und wieder mit doppelten Böden, auch wenn man meint, durch die Gitter der Käfige hindurchsehen zu können. Amina Eisner spricht am Ende darüber, dass sie nur ein Alibi sei. Dass es den Weißen, die solche Theaterstücke produzieren und anschauen, darum zu tun ist, sich gut oder sogar besser zu fühlen: „Es geht gar nicht um uns, es geht um Euch!“ Um „emotionale Kolonisierung“. Im Aussprechen, im Benennen mag noch keine Lösung liegen – aber das ist ein Anfang, ein notwendiger, ohne das wird es nicht besser werden. Und wieder weiß man nicht: Hat der Regisseur Amina Eisner solche Worte in den Mund gelegt? Spricht sie als Person – oder als Schauspielerin?

Der Effekt, auch des gesamten Stücks: eine Ahnung von der Dimension des Problems, Verunsicherung, Verwirrung. Aber auf eine ungemein berührende, produktive Weise. So wird Theater wirklich zum Erfahrungs-, zum (Herzens-)Bildungsraum. Unbedingt hingehen!

Termine: 25. November sowie, 1., 2., 3. Dezember. Karten: www.schauspielhausbochum.de