Hinter der Leichtigkeit steckt harte Arbeit. Und die Karriere eines Profi-Tänzers endet kurz nachdem sie begonnen hat. Eine Probe im Aalto in Essen.
Wie ein Kreisel dreht sich Wataru Shimizu auf der Stelle. In dem hellen Raum ohne Tageslicht ist er gleich noch mal zu sehen, und noch mal – in den hohen Spiegeln an den Wänden. Er beendet sein schweißtreibendes, fast tägliches Training für eine kurze Pause, nur um dann die eigentliche Probe zu beginnen unter den strengen Augen des Ballettchefs. Jede Blickrichtung, jede Bewegung bis in die kleinen Finger wird Wataru Shimizu einstudieren für seine Rolle des Basile im „Don Quichotte“, das am 5. November am Essener Aalto-Theater Premiere feiert.
Mit neun Jahren hat Wataru Shimizu in Japan angefangen zu tanzen. Sein Zwillingsbruder wollte es so sehr. Das ist jetzt 20 Jahre her. Als Gruppentänzer kam er 2008 ans Aalto, in dieser Spielzeit ist Shimizu zum Solotänzer aufgestiegen. Er steht weit oben auf der Karriereleiter, aber nur wenige Jahre wird er sich dort halten können. „Es ist eine traurige Geschichte“, sagt Ballettintendant Ben Van Cauwenbergh. „Mit 33 bist du an der Spitze des Tanzens“, sagt der 58-Jährige. Und dann gehe es schon bergab. Die Muskeln machten nicht mehr mit, die Knochen. „Die Verletzungen kommen.“ Und nur die wenigsten hätten das Glück wie er, in der Ballettwelt bleiben zu können und eine Compagnie zu leiten.
Beine-Warmhalten in gestrickten Stulpen
Drei Paare tanzen bei seiner Solistenprobe. Sie sind die Besetzungen, die dieses Duett, den Pas de deux, einstudieren. Aus den Boxen erklingt die fröhliche Musik der Streicher. Shimizu führt den linken Arm nach oben, die Hand ist leicht gebogen, mit der rechten umfasst er die Taille seiner Tanzpartnerin Yurie Matsuura – ihre Blicke treffen sich. Wenn man das Wort „grazil“ erklären wollte, hätte man nun das passende Bild dazu. Es ist einer der Anblicke, die die Zuschauer entzückt. Aber auch andere Bilder, weniger anmutige, gehören zum Ballett . . .
Am Rand des Saals sitzt eine Tänzerin auf dem Boden. Ihre bunten Stulpen, die ihr bis zu den Oberschenkeln reichen, sehen aus wie mit dicker Wolle von Oma gestrickt. Ihre Füße hat sie in wattierte Thermo-Boots gesteckt, mit denen man auch vor einer Skihütte keine kalten Zehen bekäme. Eleganz ist jetzt nicht wichtig. Knöchel und Beine sollen warm bleiben.
Drei bis fünf Paar Spitzenschuhe werden verschlissen – pro Monat
Zwischen ihren zusammengepressten Lippen steckt eine Nadel mit Faden, während sie mit einer Schere eine Naht an einem Spitzenschuh auftrennt. Drei Paar braucht sie im Monat, andere verschleißen in der gleichen Zeit fünf. Noch sind ihre Füße nicht voller Blasen und Schwielen. Sie durften sich in den Ferien erholen. Aber die Spitzen im zartrosafarbenen Stoff sind holzhart. Und es wird nicht mehr lange dauern, bis sie rötliche Spuren auf der weichen Haut hinterlassen. Die Füße sind die Schwachstellen der Tänzerinnen. Männer tragen die Spitzenschuhe traditionell nicht. Shimizu hat Schläppchen an. Aber damit ist er nicht viel besser dran. Die Knie, die Knöchel werden stark beansprucht, „weil wir auf so ganz dünnen Schuhen tanzen“, erklärt der Ballettdirektor. Da gebe es keine Turnschuhe, die die vielen Sprünge der Männer abfedern.
„Ein paar Frauen müssen noch abnehmen“, sagt sein Stellvertreter Marek Tuma. Schlank sollen sie sein. Aber nicht nur, damit sie schön anzusehen sind. Die Männer sollen keine Rückenschmerzen bekommen: Ein Tänzer im Saal hält seine Partnerin an der rechten Hüfte und dem linken ausgestreckten Bein über seinen Kopf in die Höhe und lässt sie fallen – um sie sofort aufzufangen, nur wenige Zentimeter über dem Boden.
Klimmzüge für den Muskelaufbau
In einer Ecke des Saals liegt auf dem Rücken ein weiterer Tänzer. Oberkörper und langgestreckte Beine nähern sich immer wieder. Später macht er Liegestütze. Dann zieht er sich an den Stangen hinauf, die aus der Wand ragen. Klimmzug für Klimmzug baut er seine Muskeln auf. Für die Sprünge. Aber auch für die Hebefiguren.
„Es ist hart“, sagt Van Cauwenbergh. Doch das dürfe keiner den Tänzern ansehen. Leicht muss es wirken, „als ob die Mädchen nichts wiegen.“ Der gebürtige Antwerpener, der selbst bis zu seinem 33. Lebensjahr auf der Bühne tanzte, sagt: „Ich kann mich nicht erinnern, dass ich einen Tag ohne Schmerzen getanzt habe. Ich habe oft Aspirin genommen, um die Schmerzen wegzukriegen.“
Nur die Besten kommen weiter
Auch wenn viel Müssen dabei ist, ohne das Wollen würde es nicht gehen. Denn nur die Besten kommen weiter. „Man muss das von hier aus machen“, sagt der Ballettintendant und klopft sich dabei aufs Herz. „Man muss es lieben, sonst geht es nicht.“ Ein Tänzer sollte während des Trainings nicht auf die Uhr schauen. An diesem Vormittag tut das auch keiner. Aber viele werfen nach der Stunde einen Blick auf einen Aushang. Dort steht, wann die Tänzer in den nächsten Wochen frei haben. Einen Tag, mal einen halben.
Aber auch an freien Tagen gehen die Tänzer in den Ballettsaal, um sich vorzubereiten. Shimizu, der mit einer Tänzerin verheiratet ist, spürt den Druck: „Tänzer haben auf der Bühne perfekt zu sein.“ Dabei sei man nie fertig ausgebildet.
Ein guter Tänzer hat etwas zu erzählen
Nach der Probe und einer Mittagspause geht es weiter bis in den späten Nachmittag. „Wenn du zwei, drei Trainings verpasst, dann leidet der Körper“, sagt Van Cauwenbergh. „Dann muss man jedes Mal bei Null anfangen.“ Die Übungen seien wichtig, selbst „bei Schmerzen oder Liebeskummer“. Zu einem guten Tänzer zähle aber auch Charisma, „dass der Tänzer etwas zu erzählen hat“. Er ist froh, dass unter den 30 Tänzern aus 16 Nationen viele verschiedene Persönlichkeiten sind.
Shimizu führt Yurie Matsuura an der Hand durch den Saal. Ihr Tanz ist ein Sich-Entfernen und Wieder-Annähern. Die Abfolge stimmt: Matsuura wirft die Arme hoch, öffnet den Mund zum stummen Jubelschrei. Bis sie lauten Applaus hört, vergehen noch Wochen. Langsam läuft eine Schweißperle über Shimizus Schläfe, als er schnell auf die Frage antwortet, wie lange er professionell tanzen will: „Solange ich kann. Hoffentlich.“