Mossul. Mossul war drei Jahre Hauptstadt des sogenannten Islamischen Staats. 2017 wurde die Stadt zurückerobert. Die Menschen leiden noch an den Folgen.

Natürlich würden sie das Grauen gerne vergessen, sagt Hamid Ali Khalaf und dreht einen Faden, der aus dem verschlissenen Teppich hervorragt, zwischen seinen Fingern. Aber das zu vergessen, was damals in Mossul geschehen ist, das ist nicht möglich. Die Gewalt, die Bomben. Die Schmerzensschreie von Amira, als ein Schrapnell ihr Bein und ihren Bauch zerfetzte. Herr Khalaf zuckt mit den Schultern, schaut seine Tochter an und sagt: „Wir hoffen auf eine bessere Zukunft. Alles hängt von Gott ab.“

Mossul im Norden des Irak. Im Juni 2014 hatte hier Abu Bakr al-Baghdadi, der damalige Anführer des sogenannten Islamischen Staats in der Großen Moschee das Kalifat ausgerufen. Das quirlige, stolze Mossul wurde zu einer Stadt, in der das Leben verdorrte. Die Extremisten zwangen Frauen unter den Ganzkörperschleier, enthaupteten öffentlich Männer, verboten Musik, Bücher, Malerei, zerstörten Denkmäler und Kunstwerke, versuchten, die fast 2500 Jahre alte Geschichte der Metropole auszuradieren. Drei Jahre später ging das Kalifat in einem Bombenhagel unter und mit ihm große Teile Mossuls.

Die Schlacht endet erst im Juli 2017

Auch im Januar 2022 sind viele Wunden noch immer nicht geheilt. Amira humpelt über den kleinen, engen Hof. Die 16-Jährige mit den lackschwarzen, zum Zopf gebundenen Haaren braucht Krücken, ihr rechtes Bein ist noch immer nicht in Ordnung, seit im Februar 2016 eine Bombe das Haus traf, in dem sie und ihre Familie lebten. „Wir haben neben Daesh-Kämpfern gelebt, vielleicht waren sie das Ziel“, sagt ihr Vater. Daesh, das ist die arabische Bezeichnung für den IS. Amira selbst ist schweigsam, schüchtern. Die eigentliche Schlacht um Mossul hatte damals noch gar nicht begonnen, erst im Oktober startete die US-geführte Koalition mit ihren irakischen und kurdischen Verbündeten den Großangriff.

Hier gibt es weitere Reportagen und Hintergründe aus unserem Wochenend-Ressort.

Amira lag nach einem kurzen Krankenhausbesuch in einer Wohnung, in der die Familie Obdach gefunden hatte. „Sie konnte sich ein Jahr lang nicht bewegen“, erzählt ihr Vater. Als es richtig schlimm wurde, verbrachte die Familie etliche Tage und Nächte zusammengepfercht mit fünfzig anderen Menschen in einem Haus. „In den letzten beiden Tagen hatten wir nichts mehr zu essen, nichts mehr zu trinken.“

Erst nach dem Ende der Schlacht im Juli 2017 und dem Ende der Terrorherrschaft des IS konnte Amira in einem Krankenhaus in der kurdischen Regionalhauptstadt Erbil behandelt werden. Gesund ist sie noch immer nicht. „Wir haben kein Geld für eine medizinische Behandlung“, sagt Herr Khalaf. Die Eltern leben jetzt mit ihr und ihren fünf Geschwistern in einem kleinen, schäbigen Haus in der Nähe der Altstadt, der Vater schlägt sich als Tagelöhner durch. Die Hilfsorganisation „Handicap International“ bietet Amira einmal in der Woche physiotherapeutische Unterstützung. Wie sie sich ihre Zukunft vorstellt? Amira schaut ein wenig ratlos drein. „Seitdem sie verletzt wurde, ist sie nicht mehr zur Schule gegangen“, sagt ihr Vater.

In Mossul pulsiert das Leben neben Trümmerhaufen

Die Altstadt nahe des Tigris war die letzte Bastion des IS in der Schlacht um Mossul. Hier im Westen der Stadt starben Tausende Menschen. Im Basar des historischen Zentrums, des Herzens der Stadt, pulsiert das Leben wieder. Menschen schlendern an den Verkaufsständen entlang. Stimmengewirr, fröhliches Lachen, im Hintergrund Musik aus Lautsprechern. Klirrendes Hämmern tönt aus den kleinen Läden der Kunsthandwerker. Es duftet betörend nach Parfüm und Seifen aus Aleppo, durch die Luft wabern die Gerüche von Gewürzen, die in prall gefüllten Auslagen liegen, von Gemüse, Obst, frisch gebrühtem Kaffee und dem Fleisch, das in den kleinen Restaurants zubereitet wird. Nur wenige Meter weiter sieht man mit brutaler Klarheit, was Mossul widerfahren ist.

Noch immer liegen große Teile der Altstadt von Mossul  in Trümmern.
Noch immer liegen große Teile der Altstadt von Mossul in Trümmern. © Jan Jessen | Jan Jessen

In der Al-Najaf-Straße klaffen dunkle Löcher, wo einst die Buchhändler der Stadt ihre kleinen Läden mit den eleganten Bögen über den Eingängen hatten. Schuttberge türmen sich auf, wo über viele Jahrhunderte Häuser im engen Straßenlabyrinth standen. Mindestens 8000 wurden zerstört. Am Hosh al-Bieaa, dem Kirchenplatz von Mossul, stehen die kläglichen Reste von vier großen christlichen Gotteshäusern, die während der Kämpfe zerbombt wurden, ein staubiges Podest erinnert an den Besuch von Papst Franziskus im vergangenen März. Auf einem Schild verspricht die Weltkulturerbe-Organisation Unesco, man werde das Herz Mossuls neu beleben. Die über tausend Jahre alte An-Nuri-Moschee, in der IS-Führer Baghdadi das Kalifat ausrief, ist eingerüstet. Das schiefe Minarett, das ein Wahrzeichen der Stadt war, existiert nicht mehr. In den letzten Tagen der Schlacht hatten es IS-Kämpfer gesprengt.

Die Universität hat ihren Betrieb wieder aufgenommen

Auch interessant

Vier der fünf Brücken über den Tigris, die den Westen der Stadt mit dem Osten verbinden, sind mittlerweile wieder aufgebaut. Der Osten war damals nicht so hart umkämpft, es erinnert heute nicht mehr viel an die Zeit, in der die Extremisten selbst die Gesichter von Comic-Figuren auf den Mauern von Kindergärten auskratzten, weil die Darstellung von Gesichtern in ihrer wahnhaften Glaubenswelt haram, also verboten war. Die meisten Gebäude, die damals beschädigt oder zerstört wurden, stehen wieder, die Universität hat vor zwei Jahren ihren Betrieb wieder aufgenommen.

In einer Sackgasse im Stadtteil Adan, auf der Hühner gackernd im Schlamm herumstolzieren, liegt der Rohbau, in dem Mohammad Ahmad al Dawood und seine Familie Unterkunft gefunden haben, seine Frau Asia und die fünf Mädchen. Sie leben in einem kleinen, kargen Raum, die Matratzen, auf denen sie schlafen, sind vor dem Fenster gestapelt. In der Mitte des Raums steht ein Heizgerät, an dem sich die älteste Tochter wärmt. „I love my Dad“ steht auf ihrem Pullover, aber ihr Vater schämt sich, weil er die Familie nicht ernähren kann, seit dem Tag im Februar 2017, als er mit Freunden auf dem Markt war, und ein Geschoss inmitten der Menge explodierte.

„Die Zeit unter dem IS war hart“, erzählt Herr Al Dawood mit einer Stimme, die rau geworden ist von den Zigaretten, die er ständig raucht. Seine Frau ist Schiitin. Schiiten, die den größten Teil der irakischen Bevölkerung stellen, gelten den sunnitischen Extremisten des IS als Abtrünnige vom wahren Glauben. Der Graben zwischen den islamischen Konfessionen ist in den vergangenen Jahren im Irak tiefer geworden. Jetzt zeigen die Schiiten deutlich, dass sie die neuen Herrscher Mossuls sind. Auf den Zufahrtsstraßen in die Stadt hängen Plakate, auf denen Qasem Soleimani und Abu Mahdi al-Muhandis zu sehen sind. Der eine war Kommandeur der iranischen Quds-Brigaden, der andere Kommandeur der irakischen Haschd-al-Schaabi-Milizen. Die beiden schiitischen Galionsfiguren wurden am 3. Januar 2020 bei einem amerikanischen Drohnenangriff ermordet.

Sie hoffen auf einen Jungen

Irgendwie überstand die Familie von Al Dawood die Zeit der Terror-Herrschaft. „Ich konnte damals wenigstens arbeiten“, sagt der 26-Jährige. Das geht nicht mehr. Bei der Explosion im Februar 2017 hatte sich ein Schrapnell in seinen Kopf gebohrt. Neun Monate lag er in Bagdad im Koma, seine Frau blieb die ganze Zeit an seiner Seite, erlitt einen Herzinfarkt. Nach ihrer Rückkehr nach Mossul im Jahr 2018 verbot ihm sein Arzt zu arbeiten, Fragmente des Schrapnells stecken noch in seinem Schädel. Eine Niere ist kaputt, sein linker Arm gelähmt. „Unsere Nachbarn versorgen uns mit Essen und geben uns Geld für den Strom.“

Auch Herr Al Dawood wird von „Handicap International“ unterstützt, neben der Physiotherapie erhält er auch psychosoziale Hilfe, weil er manchmal wütend wird, weil seine Situation so ausweglos erscheint. Jetzt ist seine Frau Asia wieder schwanger. „Ich hoffe, es wird ein Junge. Er könnte uns helfen, uns zu ernähren“, sagt sie. Herr Al Dawood schaut beschämt zur Seite.