Dorsten. Unterwegs mit Heinrich Röhling, der auf den Bauernhöfen in Dorsten und Haltern als Besamungstechniker schon vielen Kälbchen zur Existenz verhalf.
Heinrich Röhling ist ein ruhiger, besonnener Mann. Und auf den Bauernhöfen in Dorsten und Haltern ein guter, alter Bekannter. Wenn er mit seinem Mercedes-Kombi vorfährt und seinem Job nachgeht, kommt gut neun Monate später ein Kälbchen zur Welt. Röhling ist Besamungstechniker. Gemeinsam mit einer Handvoll anderer Kollegen ist er verantwortlich für die meisten Rindergeburten in diesem Teil des nördlichen Ruhrgebiets. Kein Job wie jeder andere, vielmehr einer, der im wörtlichen Sinne Fingerspitzengefühl und Einfühlungsvermögen erfordert.
Man stelle sich einen Kuhstall vor! Das ist eine Aufgabe, die sogar Stadtkinder selbst in diesen Tagen noch spielend bewältigen sollten. Aber nun stelle man sich einen Kuhstall von heute vor! Wer gut zehn Jahre nicht dort war, wird sich wundern. Hier trifft tatsächlich althergebrachte Landwirtschaft auf Hightech. So wie auf dem Hof von Frank Krampe.
Hochtechnologie ist längst in den Kuhstall eingezogen
Hier stehen die Kühe in ihren Boxen und futtern. Oder laufen ein wenig umher. Wenn sie nicht gerade neugierig schauen, wer da gerade in ihrer „Wohnung“ zu Besuch ist. Man steht also mitten zwischen den Kühen und darf sich nicht wundern, wenn so ein Rindviech, das einem gerade sein Hinterteil zugewandt hat, gerade mal alles hinter sich fallen lässt. Das ist noch so wie vor hunderten von Jahren – und es riecht auch so. Überraschen dürfte allerdings schon, dass nach kurzer Zeit der landwirtschaftliche Kehr-Roboter um die Ecke gefahren kommt und den Großteil der noch warmen Hinterlassenschaft zusammenfegt und aufnimmt.
Der Chip misst ganz genau, wann die Kuh brünstig
Schaut man dann einer Kuh in ihre sanften, treuen, geduldigen Augen, geht einem auch noch auf, was es mit dem Attribut „kuhäugig“ auf sich hat. Natürlich tragen Kühe von heute auch Clips mit ihren Registrierungsnummern in den Ohren. Aber warum tragen sie auch noch Halsbänder? Ist das die neueste Mode? Der Grund ist technischer, als man es sich ausmalen mag: In die Halsbänder sind Kippsensoren wie in einem Smartphone eingebaut. Sie messen die Kopfbewegungen. Vorwärts-rückwärts: Fressen. Seitwärts: Gehen. Und sie messen die Temperatur. Ein paar Räume weiter empfängt ein Computer die Signale. Aus den Daten der Kuh kann er ablesen, ob sie gesund oder krank ist. Und wann sie brünstig wird. Dann bekommt der Bauer eine Nachricht aufs Handy. Der kühl kalkulierende Chip kann die Brünstigkeit mindestens so genau feststellen, wie ein erfahrener Bauer, allerdings mit weniger Mühe.
Aufträge kommen auch über What’sApp herein
Für die dritte Kuh von rechts war es heute so weit – und an dieser Stelle kommt Heinrich Röhling ins Spiel: Er bekommt morgens per Anrufbeantworter, Handyanruf oder gar über What’s App seine Aufträge und fährt Hof für Hof an. Bei Frank Krampe beugt er sich nun in den Kofferraum, in dem ein grauer Stickstoffbehälter steht, in dem die auf -187 Grad Celsius heruntergekühlten Kanülen mit Zuchtbullensperma aufbewahrt werden, gekennzeichnet nach dem Namen des Spendertiers, damit bei der Vaterschaft keine Verwechslung geschieht. „Ich erwärme das jetzt auf 38 Grad“, sagt Heinrich Röhling. Und auf dieser Temperatur muss er das Material halten, damit es unbeschädigt bleibt. Aus diesem Grund steckt er die Probe kurz in den Schaft seines Stiefels, während er zur Kuh geht und den Schutzhandschuh über den rechten Arm zieht.
„Die Kuh merkt davon praktisch nichts“
Der Akt der Besamung selbst geht schnell vonstatten. Röhling zieht das Sperma auf eine Pipette und geht mit dem Arm in einer gekonnt durchgeführten Schraubbewegung von hinten in die Kuh – bis zum Gebärmutterhals, wo er die Ladung injiziert. Röhling sagt: „Die Kuh merkt davon praktisch nichts.“ Wer angesichts dieser Aussage skeptisch wird, muss der Kuh in diesem Moment nur in die Augen schauen: Ruhig, gleichmütig, komplett ungerührt steht sie da, als wäre nichts geschehen.
Nun muss klar sein: Die künstliche Besamung von Kühen ist eine hochtechnisierte Leistung der Veterinärmedizin. Ursprünglich diente sie der Eindämmung von Seuchen bei den Rindern, dann entdeckte man, dass sich damit auch Zuchterfolge erzielen lassen.
Freie Auswahl aus dem Zuchtbullenkatalog: „Ferrari“, „Maserati“, „Effizienz“
Wer heute den Zuchtbullenkatalog in die Hand nimmt, kommt aus dem Staunen nicht mehr raus: Hochästhetisierte Studiofotos von muskulösen männlichen Rindern, die fast aussehen, als würden sie Hochleistungssport betreiben. Anhand der genetischen Profile lässt sich bestimmen, in welche Richtung sich der Nachwuchs entwickelt und welcher Bulle am besten zu welcher Kuh passt. Da geht es um die Größe des Euters, um die sogenannten Fundamente, also die Stabilität der Beine, um die Langlebigkeit und Milchgabe. Und die Bullen tragen, im Gegensatz zu den Kühen, Namen: „Ferrari“, „Maserati“, „Adventure“, „Effizienz“ oder ähem, „Explizit“ oder noch weniger subtil: „Popstar“, was jeglichen Kommentar überflüssig macht. Sie sind alle DNA-getestet, ihr Sperma wurde filtriert. Und ist auch „gesext“ zu kaufen – also in Varianten, bei denen vornehmlich weibliche Tiere herauskommen – oder in die andere Richtung eben männliche. In der Rinderzucht wie auch in anderen Teilen der Landwirtschaft bleibt heute wenig dem Zufall überlassen.
„Die Kuh schaut nicht auf den Kalender.“
Heinrich Röhling weiß, dass er es trotz aller Technologie immer noch mit Lebewesen zu tun hat, die sich nicht normen lassen. Das sieht man schon daran, dass er normalerweise eine Siebentagewoche hat. „Die Kuh schaut nicht in den Kalender“, sagt er, sie erreicht die Brunst eben, wenn es soweit ist. Dann bleibt ein Zeitfenster von 18 Stunden – ansonsten muss man wieder drei Wochen warten.
Die Zuchterfolge äußern sich darin, dass gesunde Tiere herauskommen, die langlebig sind. 10 000 Kilogramm Milch gibt eine moderne Kuh pro Jahr – und hat damit ungefähr die doppelte Milchleistung wie die Kühe vor 100 Jahren. „Nach fünf Jahren wird eine Kuh ersetzt“, erzählt Landwirt Frank Krampe nüchtern. Dann hat sie meist mehrmals gekalbt – und so für den Erhalt der eigenen Linie gesorgt.
Wer sich nun fragt, ob die ganze Prozedur des Zeugens für die Kuh nun komplett auf künstlichem Wege abgeht: Das ist nicht immer der Fall. Krampe hat, für bestimmte Fälle und wenn es genetisch passt, einen Zuchtbullen im Nachbarstall.