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Autor Lars von der Gönna lässt die Klassik-Produktionen des Jahrzehnts Revue passieren. Kein leichtes Unterfangen, schließen sich doch Kassenknüller und Kunstexzellenz nicht selten aus.

Anders als Filmcharts sind solche für Bücher und CDs nicht leicht in tatsächlichen Konsum zu übersetzen. Im Kino zählt man Zuschauer (okay, manche schlafen, waren aber doch drin). Bei Büchern und CDs zählt man nur Käufer. Das ist ein Riesenunterschied. Vor Jahren führte ein Wissenschaftsessay namens „Gödel, Escher, Bach“ die Bestsellerlisten an. Viele Menschen fanden dieses Buch unterm Baum, ja es war fast Pflicht, es Menschen zu schenken. Viele Beschenkte stellten die Ideenprofile ausgewählter Genies respektvoll an eine exponierte Stelle ihrer Hausbibliothek; über den Klappentext sind sie nie hinausgekommen.





Damit habe ich noch nicht eine Zeile über die besten Klassik-Produktionen des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts geschrieben. Es scheint mir an sich unmöglich, aber anhand von Verkaufszahlen ist es das erst recht. Kassenknüller und Kunstexzellenz schließen sich fast immer aus. Immerhin: Martin Stadtfelds „Goldberg Variationen“ (Sony) zählen zu den Bestsellern der Dekade. Und natürlich der finale Durchbruch Anna Netrebkos. Ihre Salzburger „Traviata“ (mit Rolando Villazon) wurde bald auf Platte nachgestellt und verkaufte sich zum Schwindsüchtigwerden gut. Das hieß Platin und mehr. Das ist nicht rätselhaft, sondern zeittypisch. Es sind jene Interpreten, die sich auf Thomas Gottschalks Wetten-dass-Sofa so selbstverständlich präsentieren wie auf der Opernbühne von Covent Garden, die dem kränkelnden Klassik-Markt Umsätze sichern. Wo die anderen bleiben? Die Ernsten und in sich Gekehrten, die Beethoven mehr als Broadway Verpflichteten? Für Charts taugen sie nicht.

Eine Frage des Geschmacks und Gefühls

Ohnehin bleibt ein klassisches „Best Of“ der letzten zehn Jahre eine Frage des Geschmacks und Gefühls. Wer das Glück hatte (und Glück ist ein schwaches Wort dafür), den greisen Günter Wand live in seinen letzten Konzerten zu hören, wird mit „Die letzte Aufnahme“ (2002 bei RCA erschienen) unendlich mehr verbinden als so durch- wie hellsichtig interpretierte Sinfonien von Bruckner und Schubert.

Klassik-Liebhaber neigen dazu, Neues abzuwerten und in nostalgischer Wehmut zu baden, weil früher ja doch alles besser war. Leider ist es wie mit dem Rauch und dem Feuer – nicht selten stimmt es. Das mag der Grund sein, warum das letzte Jahrzehnt keine einzige Operngesamtaufnahme hervorgebracht hat, die berühmte Vorgänger nennenswert bedroht hätte, keinen „Don Giovanni“, keinen „Maskenball“, keinen „Fliegenden Holländer“. Umso interessanter und bestechender fielen Wiederentdeckungen auf, die Jahrzehnte im Archiv geschlummert hatten. Für mich besetzt Wagners „Ring des Nibelungen“ live aus Bayreuth vom späten Juli 1955 den ersten Platz dieser Kategorie. 2006 hat das Label „Testament“ sie herausgebracht und die Edition gibt mit Joseph Keilberths Dirigat und einem All-Star-Solistenensemble von Astrid Varnay bis Josef Greindl mehr als einen Eindruck von dem, was es an Stil, Bewusstsein, Ausdruck, Seele in vielen Opernaufführungen der Gegenwart zu vermissen gilt.

Joyce DiDonato - Mordsstimme, farbenreich und beglückend beweglich

Aber natürlich gibt es Lichtblicke. Die Amerikanerin Joyce DiDonato macht zwar jeden Showbiz-Quatsch mit, ist aber ein Mezzosopran fürs Belcanto-Fach, nach dem sich auch Ewiggestrige die Finger lecken müssten. Eine Mordsstimme, farbenreich und beglückend beweglich, in allen Registern klangschön und von einem Ton, der einen jede Kümmernis der Welt vergessen lässt. Ihr Rossini-Album „Colbran, the Muse“ (Virgin Classics 2009) zählt für mich zum Schönsten, was das Jahrzehnt an vokalen Gaben bereit hielt.

Meine Kammermusikplatte der Dekade? Entstand 2007 und lässt das Artemis-Quartett mit dem norwegischen Cellisten Truls Mork aufwühlend beseelt in Schuberts Schattenreich aufbrechen. Quartettsatz (D 703) und Streichquintett (D 956) dieser tief- und abgründigen Aufnahme sind bei Virgin Classics erschienen.

Von der Zahl monatlich neu aus dem Graben springender pianistischer Superstars und Wunderkinder bin ich überfordert. Manchmal frage ich mich, ob es sich lohnt, die Namen zu merken. Sympathisch scheint mir die Querköpfigkeit und Konsequenz von David Fray. Gegner kritisieren seinen Hang zu extremer dichterischer Freiheit am Klavier. Mit seinen Alben der Bach-Konzerte und zuletzt einer wundervoll wehmütigen Schubert-Hommage habe ich auch manchen Klassik-Muffel zum Hinhören verführt. Was will man mehr?

Und nun vermissen Sie: Jonas Kaufmann und Alice Sara Ott. Und David Garrett und Juan Diego Florez. Es sind sicher die Besten – für andere. Aber am Ende eines Jahrzehnts neigt man dazu, persönlich zu werden. Ich danke für Ihr Verständnis. Lars von der Gönna