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Wie hat sich der Junge gefühlt, der sich mit Anne Frank im Amsterdamer Hinterhaus versteckte? Eine fiktive Biografie erzählt die Geschichte aus seiner Sicht. Und löst damit heftige Kritik aus.
Nicht nur Anne Franks Familie, sondern auch die von Peter van Pels, versteckte sich bis 1944 im Amsterdamer Hinterhaus. Die Autorin Sharon Dogar hat sich in den damals 15-Jährigen hineinversetzt. Als der Roman jedoch 2010 in Großbritannien und den USA erschien, war die Kritik groß. Die Autorin habe Anne Frank und Peter van Pels eine sexuelle Beziehung angedichtet, schrieben Medien. Auch Buddy Elias, der letzte lebende Verwandte von Anne Frank und Präsident des Schweizer Anne-Frank-Fonds, distanziert sich von diesem Roman. Er sei schockiert und traurig darüber. Nun ist das Buch auch hierzulande erschienen, mit der Adresse des Verstecks im Titel: „Prinsengracht 263“.
Ein Skandal?
Und wer es liest, wird überrascht sein, welchen Skandal dort mancher Journalist gewittert haben will. Es gibt darin keine verwerflichen Sexszenen, lediglich die nachvollziehbare Suche nach Nähe.
Anne Franks Tagebuch ist in erster Linie ein Symbol für die Gräueltaten der Nazis an Millionen Juden. Dieses Zeitdokument ist aber auch die Geschichte eines nachdenklichen Mädchens, das nicht nur mit der täglichen Angst, sondern auch mit alltäglichen Gefühlen leben muss. Viele Seiten ihres Tagebuchs handeln von Gedanken über das Erwachsenwerden und den Wunsch nach Liebe. Das können junge Leser nachempfinden. Sie fühlen sich dadurch Anne nahe, und auch deshalb geht ihnen dieses Tagebuch unter die Haut. Der Roman kehrt ebenfalls das Innerste des Jungen nach außen.
Stellt sich nun die Frage, ob man Menschen der Geschichte für einen fiktiven Roman nutzen darf? Der Anne-Frank-Fonds hält dies grundsätzlich für unangebracht. Der britische Anne-Frank-Trust wirft der Autorin „Ausbeutung“ vor. Das ist angesichts der vielfachen Vermarktung des Tagebuchs nachvollziehbar, es wurde schon für Musical und Comic adaptiert. Doch Dogar geht bei ihrem Gedankenexperiment sensibel mit der Historie um. Ähnlich wie zuletzt Mirjam Pressler, die Übersetzerin des Tagebuchs. Die Autorin erzählt ebenfalls in einem fiktiven Roman die Geschichte eines jüdischen, allerdings bisher unbekannten Mädchens: „Ein Buch für Hanna“.
Braucht man solche Bücher?
Bleibt noch die Frage, ob man solche Bücher braucht? Kein Roman bewirkt das, was ein Zeitdokument kann. Worte von einem Menschen, der das Unfassbare selbst erlebt hat, sind durch nichts zu ersetzen. Aber auch die Romane berühren den Leser und sind kleine Schritt gegen Rassismus und Gewalt.
Wo das Tagebuch der 15-Jährigen endet, erzählt der Roman weiter: Wie hat Peter van Pels, den Anne in ihrem Tagebuch Peter van Daan nannte, die letzte Zugfahrt von Holland nach Auschwitz überlebt? Und wie später den „Todesmarsch nach Mauthausen“? Kurz nach der Befreiung des Konzentrationslagers soll Peter van Pels gestorben sein. Er wurde nur 18 Jahre alt.
- Sharon Dogar: Prinsengracht 263, Thienemann Verlag, 365 Seiten, 18 Euro, ab 13