Gelsenkirchen. Ein Opernhaus als Ort eines Experimentes: Um Menschen, die der Arbeitsmarkt vergessen hat, kreist „Stadt der Arbeit“ am Musiktheater im Revier
„Wenn ihr uns die Zukunft gestalten lasst, gestalten wir die Zukunft von Gelsenkirchen“, skandiert der Chor der Bürgerinnen und Bürger. Das großartige Schlussbild wäre noch eindringlicher, würde die vielstimmige Forderung der Arbeitslosen und Frührentner, der Hartz-4- und Sozialhilfeempfänger nach sinnvoller Beschäftigung in sozialversicherungspflichtigen Jobs, nach einer auskömmlichen Grundrente die Stille im Musiktheater tatsächlich wie ein scharfes Messer durchschneiden. Dass dem Chor dazu die letzte Präzision fehlt, darüber sieht man freilich gern hinweg. Authentizität ist das Zauberwort, nicht Perfektion.
Regisseur Volker Lösch und Dramaturg Ulf Schmidt haben die packende, gesellschaftspolitisch hoch aktuelle Produktion „Stadt der Arbeit“ mit jenen erarbeitet, die sonst nur als Fallnummern einer Statistik auftauchen und die sich nun in einem dokumentarischen Musiktheaterabend selbst spielen. !5 Menschen aus Gelsenkirchen, der Stadt mit der höchsten Arbeitslosenquote in Deutschland, berichten offen und ehrlich auch gegen sich selbst, voller Wut oder aus Verzweiflung geborener Ironie von ihren individuellen Erfahrungen auf und mit dem Arbeitsmarkt.
„Stadt der Arbeit“ erlebte in Gelsenkirchen Premiere. Ein eindringlicher Abend
Ulf Schmidt gibt diesen ungeschminkten Erzählungen einen ins Fantastische verlegten Handlungsrahmen, der allzu deutliches Lokal-Kolorit wegfiltert und in Carola Reuthers Ausstattung seinen überwältigenden Ausdruck findet.
Die 15 Männer und Frauen sind eingesperrt in Gitter-Käfige eines fiktiven Arbeitshauses; und während, mit Beethoven, die Ode „Arbeit, edle Himmelgabe“ erklingt, machen sich zwei gnadenlose, uniformierte „Fallmanager“ (Gloria Iberl-Thieme, Glenn Goltz) daran, die Weggesperrten zu resozialisieren, sie wieder geeignet für einen Arbeitsmarkt zu machen, den es für die vom Schicksal Aussortierten eigentlich gar nicht mehr gibt. Wie überhaupt der Traum von einer den eigenen Fähigkeiten und vor allem Neigungen entsprechenden, existenzsichernden Erwerbstätigkeit längst ausgeträumt ist. Labora (Petra Schmidt) und Dromus (Sebastian Schiller), zwei Wesen aus wie einem mythologischen Götterkosmos, verfolgen und kommentieren das irdische Geschehen gleichsam aus höherer Warte. Dazu erklingen, gespielt von einer kraftvollen, um eine Bläsersektion erweiterten Band, geschickt umgetextete Arien von Mozart oder Eisler, zeitlose Country-, Rock-, Pop- oder Hip-Hop-Stücke.
Volker Lösch band Arbeitslose und andere Betroffene in das Projekt am MiR ein
Die so unterschiedlichen Einzelschicksale, die in den Beratungsgesprächen mit den autoritären Fallmanagern aufscheinen, sind durchaus tragisch. Ob es um die Zuweisung einer Tätigkeit geht (Arbeit selbst muss nicht sinnvoll sein, der Sinn der Arbeit ist die Arbeit), um „Wertneutralität“ (Jobs, die sonst niemand will) oder um die Nicht-Bewertung von erbrachten Leistungen: In den Klienten wird der Glaube genährt, nicht Opfer der Politik, sondern eigenen Versagens zu sein. Eine Mutter hat nur ihr eigenes Kind groß gezogen, kein fremdes betreut? Selbst schuld, das war Privatsache, keine Arbeit.
Das Stück endet mit einer Vision. Vor die Herausforderung gestellt, sich alle um einen einzigen (nicht benannten) Arbeitsplatz zu bewerben und dabei vor allem die Nicht-Eignung der Mitbewerber zu begründen, verweigern sich die Arbeitshaus-Insassen, begehren auf. Bilden eine Solidargemeinschaft und marschieren los in Richtung Zukunft.