Bayreuth. Buh-Salven und Ovationen für den neuen „Fliegenden Holländer“ – trotz halbvollem Saal und Maskenzwang bei den 109. Bayreuther Festspielen

„Der fliegende Holländer
„Der fliegende Holländer" mit Marina Prudenskaya (Mary), Eric Cutler (Erik), Asmik Grigorian (Senta) und Chor. © festspiele bayreuth / dpa | Enrico Nawrath

Ohne Roten Teppich und Staatsempfang, dafür mit Maske und viel Armfreiheit im halb gefüllten Festspielhaus: Die Eröffnung der 109. Bayreuther Festspiele gestaltete sich deutlich anders als gewohnt. Auf und unter Bühne ging es dagegen bei der Neuinszenierung des „Fliegenden Holländers“ erstaunlich normal zu. Das Regie-Team wurde mit Ovationen und Buh-Salven bombardiert, das Orchester blies in voller Besetzung aus allen Rohren und das Solistenensemble empfahl sich in qualitativ disparater Vielfalt.

Selbst der einzige gravierende musikalische Eingriff, der Umgang mit den Chorszenen, fiel glimpflicher aus als befürchtet. Nur die Hälfte des Stammchors darf ihren Part im Probenraum singen, während die 70 Kollegen auf der Bühne stumme Statistenrollen übernehmen müssen. Der übertragene Klang wirkt natürlich, wenn auch nicht so gewaltig wie in gesunden Zeiten. Und die Koordination zwischen Chor und Orchester wackelte in der Premiere noch wiederholt. Angesichts der ungewohnten Situation verständlich und mit wachsender Gewöhnung wohl reparabel.

Dmitri Tcherniakov will das Unerklärliche logisch erscheinen lassen

Polit-Prominenz auf dem Grünen Hügel vor der Eröffnung der 109. Richard-Wagner-Festspiele mit einer Neuinszenierung der Oper „Der fliegende Holländer
Polit-Prominenz auf dem Grünen Hügel vor der Eröffnung der 109. Richard-Wagner-Festspiele mit einer Neuinszenierung der Oper „Der fliegende Holländer": Bundeskanzlerin Angela Merkel (2.v.l., CDU), ihr Mann Joachim Sauer (l.), Markus Söder (r., CSU) und seine Frau Karin Baumüller-Söder. © dpa | Daniel Karmann

Dass unter diesen Umständen die Chorschlachten zwischen Norwegern und Holländern im letzten Akt ein wenig harmlos wirken, kommt der Inszenierung des als Regie-Star hoch gehandelten Russen Dmitri Tcherniakov durchaus entgegen, der alles Märchenhafte, alles Dämonische radikal ausradierte und sich auf das riskante Glatteis begab, das Unerklärliche logisch erklären zu wollen. Dass er damit die geheimnisvoll-rätselhafte Substanz einer hochromantischen Oper verfehlt, führt zu gedanklich hochgestochenen szenischen Konstrukten, die sich weder mit dem Kolorit noch dem ideellen Gehalt des Werks vereinbaren lassen.

Tcherniakov sieht im Holländer nicht den fluchbeladenen, getriebenen Verdammten auf der Suche nach Erlösung durch die Treue einer Frau. Er sieht die Handlung, ähnlich wie Dürrenmatt im „Besuch der alten Dame“, quasi als Racheakt eines „alten Holländers“. Dazu dichtet Tcherniakov eine fantasievolle, aber wenig überzeugende Vorgeschichte. Der kleine Holländer erlebt, wie seine Mutter durch Sentas Vater in den Selbstmord getrieben wird. Als alter Mann kehrt er unerkannt in sein Dorf zurück, benutzt die rebellische Senta als Werkzeug und überzieht die am Ende in Flammen aufgehende Stadt mit Terror, bevor er von Sentas Mutter erschossen wird. Viel Tcherniakov, wenig Wagner.

Erste Frau: Oksana Lyniv zieht die Ouvertüre mit orkanhafter Vehemenz durch

Und viele Details lassen in der Umsetzung durchaus die handwerkliche Klasse Tcherniakovs erkennen. Allerdings auf der Basis wenig werkdienlicher Konzepte. Die nüchterne Sehweise führt zu viel Stillstand auf der Bühne, sieht man von munteren humpenschwenkenden Norwegern an ihren Biertischen ab. Ein Stillstand, den vor allem zwei Frauen wohltuend beleben.

Ohne die geringste Andeutung auf die breitgetretene Sensation, dass sie als erste Frau nach 145 Jahren das Bayreuther Festspielorchester leiten darf, muss man der ukrainischen Dirigentin Oksana Lyniv bescheinigen, dass sie mit den akustisch, besonders beim „Holländer“ heiklen Problemen des Hauses erstaunlich gut, wenn auch noch nicht perfekt zurecht kommt. Sie betont den überschwänglichen Charakter des Frühwerks und zieht die Ouvertüre mit orkanhafter Vehemenz durch. Was freilich immer wieder zu groben, noch nicht rundum ausgewogenen Klangbildern führt. Insgesamt gibt sie dem Werk jedoch jenen emotionalen Überdruck, den Tcherniakov eliminieren möchte.

Asmik Grigorian als Senta mit der besten Gesangsleistung des Abends

Mit dem gleichen leidenschaftlichen Pulsschlag und der mit Abstand besten gesanglichen Leistung des Abends füllt Asmik Grigorian ihre Rolle als Senta aus. Ihre Senta rebelliert gegen die Eltern. Dass sie sich dabei dem Holländer nicht aus Liebe, sondern als Affront gegen die Eltern hingibt, gehört zu den szenischen Ungereimtheiten der Inszenierung. Was aber ihrer stimmlichen Brillanz und Durchschlagskraft keinen Abbruch tut. Sie singt ohne Pause mit Volldampf, was gar nicht nötig wäre, wie sie mit ihrer perfekt gestalteten Ballade zeigte.

John Lundgren als Holländer hat es nicht leicht, sich gegen diesen weiblichen Vulkan durchzusetzen Einerseits wird er von der Regie recht statisch geführt, andererseits wirken die Folgen seiner Corona-Erkrankung noch mit konditionellen Schwächen nach. Georg Zeppenfeld, eine der qualitativ stabilsten Säulen der Bayreuther Stammgarde, ist zwar nicht der charismatischste Darsteller eines Bösewichts, wie Tcherniakov den Daland versteht. Stimmlich überzeugt er jedoch wie gewohnt ohne den geringsten Makel. Dass Tcherniakov die oft weinerlich-undankbare Rolle des Erik aufwertet, gehört zu den wenigen Highlights seiner Arbeit. Eric Cutler fühlt sich dadurch so beflügelt, dass die Ausein­andersetzungen mit Senta zu den packendsten Szenen gerieten. Auch die Rolle der Mary, die zugleich Sentas Mutter verkörpert, erhält durch Marina Prudenskaya schärferes Profil als gewohnt.

Hochwertig, aber noch nicht rundum ausgereift

Insgesamt eine musikalisch hochwertige, aber noch nicht rundum ausgereifte Interpretation, basierend auf einem fantasievoll erdachten, aber blass ausgeführten und von der Partitur nicht getragenen szenischen Konzept.