London. Die „Rocky Horror Show“ ist bald zu Gast in Duisburg, Köln und Düsseldorf. Grund genug für einen Besuch am Londoner Geburtsort des Kult-Musicals.
„Let’s do the Time Warp again…“ – Zeitsprung zurück ins Jahr 1973. Damals, als im Londoner Stadtteil Chelsea noch Bohèmiens den Ton angaben und nicht die juwelenklimpernden Damen von heute, als sich schnuckelige Cafes an flippige kleine Shops reihten, da wurde hier am Sloane Square Rock-Musical-Geschichte geschrieben. Richard Hartley steht vor dem alten roten Ziegelbau, dessen Fensterrahmen längst ihre einstige Farbe verloren haben, und blickt über den Narrenkopf auf der stuckverzierten Fassade empor zum Giebel, wo in vormals goldenen, mittlerweile schmutzig-vergilbten Buchstaben der Name des Theaters prangt: Royal Court Theatre.
„In jenem Juni war es dort oben unter dem Dach brütend heiß, wir mussten ob der Hitze mehrmals die Proben zur Rocky Horror Show unterbrechen“, erinnert sich der Komponist. Denn auch wenn das Haus schon damals einen Ruf als Experimentier- und Uraufführungsbühne in der Theaterwelt hatte (und bis heute als eines der einflussreichsten Autoren-Theater in Europa gilt), an einen Erfolg dieses bizarren Musicals um den Erdbesuch einiger transsexueller Außerirdischer glaubte in der Leitung niemand. Und so landeten Hartley, Autor Richard O’Brien und Regisseur Jim Sharman in dem düsteren, fensterlosen Raum im Dachgeschoss mit dem Charme eines abgeranzten englischen Pubs – und durften obendrein erst nach 22 Uhr beginnen: Ihre laute Rockmusik hätte sonst die Abendvorstellung auf der Hauptbühne zwei Etagen tiefer gestört… Wer konnte schon ahnen, dass an jenem 16. Juni 1973 vor 63 Zuschauern der Siegeszug für eine Freak-Show begann, die bis heute mehr als 20 Millionen Besucher begeistert hat – und nun in einer Neu-Auflage nach Duisburg, Köln und Düsseldorf kommt.
Sieben handgeschriebene Notenseiten beim Casting
„Manchmal trifft man im Leben Menschen und muss gar nichts groß erzählen, weil einfach ein Grundvertrauen da ist und man spürt: Wir haben dieselbe Wellenlänge“, erinnert sich Hartley an seine erste Begegnung mit O’Brien und Sharman. „Eines Nachts saßen wir bei Richard, der uns von seiner Idee für ein Musical erzählte und ein paar Melodien vorspielte – und als ich nach Hause ging, dachte ich: Das kann funktionieren.“ Mit sieben handgeschriebenen Notenseiten starteten sie das Casting, und da im Royal Court Theatre gerade eine andere Produktion ausgefallen war, konnte das Trio kurz darauf in der Dachkammer mit den Proben beginnen. Die gerade mal zweieinhalb Wochen dauern durften, denn mehr gab das knappe Budget nicht her.
„Damals mussten wir die Treppenstiegen auch noch zu Fuß erklimmen“, erzählt der silberhaarige 77-Jährige mit den sonnengegerbten Gesichtszügen, als wir in den Fahrstuhl steigen. „Das Publikum saß auf Holzbänken, hinter einem Vorhang an der Kopfseite spielte die Band, während sich die Darsteller auf einem Catwalk in der Mitte des Raumes um das einzige Mikro bewegten, das von der Decke baumelte.“ Alleiniger Farbtupfer in der kargen Schwarz-Weiß-Szenerie: der knallrote Lippenstift von Tim Curry als Frank’n’Furter – „was die Besucher irritiert auflachen ließ“.
Streiks, Stromsperren und der Bombenterror der IRA
Immerhin: In der Rocky Horror Show hatten die Leute etwas zu lachen. „London selbst lag 1973 ziemlich am Boden, allenthalben gab es Streiks, nicht zuletzt in den Kohleminen, Stromsperren und der Bombenterror der IRA legten das öffentliche Leben in der Stadt immer wieder lahm“, blickt Hartley zurück. Doch vielleicht auch gerade deshalb zündete die Idee für die schrille Rock’n’Roll-Show: Ging (und geht) es doch um Identität und Selbsterfahrung jenseits des gesellschaftlich Akzeptierten – „und irgendwo war es natürlich auch eine Feier der eigenen Jugend“.
Oder nüchtern betrachtet: die clevere Idee einer poetischen, knackig-kurzen Rock’n’Roll-Show mit Science-Fiction-Elementen. „Das Stück dauerte bei der Uraufführung gerade mal 50 Minuten“ – was nicht nur damit zu tun hatte, dass die Theater-Crew hinterher unbedingt noch etwas Warmes zu essen bekommen wollte im benachbarten Restaurant „Asterix“... Die heute übliche, Abend-füllende Länge wie auch die weltweite Berühmtheit erlangte die opulente Rock-Oper erst durch die Leinwandadaption der „Rocky Horror Picture Show“ 1975.
„Time Warp“ war in der Urfassung gar nicht enthalten
Der Rest ist längst Rock-Geschichte, wie auch die Entstehung des „Time Warp“: War doch der vielleicht bekannteste Song des schrillen Kult-Stücks in der Urfassung gar nicht enthalten. „Richard war der Meinung, dass ein Musical unbedingt auch eine Tanznummer brauche“ – und O’Brien sollte Recht behalten…
Bleibt am Ende dieser Londoner Spurensuche die Frage: Was macht 2022 den auch nach bald fünf Jahrzehnten noch ungebrochenen Erfolg der Rocky Horror Show aus? „Zum einen liegt die Faszination natürlich in der Musik“, lächelt der Komponist. „Zum anderen aber zweifellos auch in der Botschaft: Sei einfach so, wie du sein möchtest – ein Gedanke, der bis heute für viele eine Initialzündung ist.“ Na denn: Let’s do the Time Warp again!
Die Rocky Horror Show gastiert in Duisburg: 28. April bis 1. Mai, Theater am Marientor, Karten: 30,40–100,40 Euro; Köln: 3. bis 15. Mai, Musical Dome, Karten: 26,90–99,90 Euro; Düsseldorf: 14. bis 26. Juni, Capitol Theater, Karten: 22,40–82,40 Euro. Tickets gibt es online auf www.ruhrticket.de. Weitere Infos: rocky-horror-show.de