Essen. Hitlers „Mein Kampf“ erscheint in einer kritischen Ausgabe. Sie soll Schullektüre werden. Manche fürchten allerdings eine Büchse der Pandora.
Seit Jahresbeginn kann jeder, der möchte, eine Ausgabe von Hitlers „Mein Kampf“ in Deutschland auf den Markt werfen: 70 Jahre nach dem Tod des Autors sind die Urheberrechte ausgelaufen. Wenige Tage zuvor noch war der deutschen Boulevardpresse noch die „wissenschaftliche“ Entdeckung, dass Adolf Hitler nur einen Hoden gehabt haben soll, eine Seite-1-Schlagzeile wert.
Irres Gebräu aus abstrusen Vorstellungen
Wieviel Arbeit hat „Mein Kampf“ Ihnen gemacht?Hartmann: Sehr viel, sehr sehr viel. So ein irres Gebräu zu widerlegen, ist schwierig. Man ist es in wissenschaftlichen Diskursen ja gewohnt, auf Augenhöhe zu argumentieren. In diesem Fall war es aber so, dass man sich mit völlig abstrusen Vorstellungen auseinandersetzen musste. Wir mussten im Grunde beweisen, dass die Erde nicht flach ist.Warum sind Sie das Projekt angegangen?Hartmann: Das ist – auch wenn es pathetisch klingt – die Verantwortung des Historikers. Wir sind eine Art Kampfmittelräumdienst, der Relikte aus der Nazi-Zeit unschädlich macht.Sind Sie erleichtert, Hitler jetzt nicht mehr lesen zu müssen?Hartmann: Ja, natürlich. Man kann seine Lebenszeit auch mit besserer Literatur verbringen. Ich hab jetzt von Hitler schon auch die Nase voll.
Was die Frage, ob Hitlers programmatische Hetzschrift heute noch gefährliche Wirkungen haben kann, beinahe schon hinreichend beantwortet: Hitler gilt immer noch als Freak, als monströseste Ausgeburt des Bösen in der Geschichte der Menschheit. Darum ist ja jeder Fernsehsendung über seinen Schäferhund, seine Einschlafgewohnheiten oder die Giftdosis seines feigen Selbstmords eine gewisse Mindestquote sicher.
Am Freitag erscheint nun die kommentierte „Mein Kampf“-Ausgabe, die mehrere Historiker am Münchner Institut für Zeitgeschichte als „kritische Edition“ innerhalb von drei Jahren erarbeitet haben. Mit Tausenden von Stellenkommentaren, die falsche Daten und Widersprüche richtigstellen, die „Mein Kampf“ so zahlreich enthält. Wie sehr man in Deutschland an die Wirkmacht solch einer philologischen Behandlung glaubt, zeigt sich daran, dass etliche Landeschulbehörden schon daran gehen, die kritische Ausgabe als Schullektüre einzuführen. Nachdem „Mein Kampf“ jahrzehntelang tabu war wie ein Gift, soll dasselbe Buch nun eine heilsame antirassistische, demokratiefördernde Wirkung entfalten.
Ob mit oder ohne Fußnoten – die Lektüre erfordert viel Mühe und Schmerzfreiheit. Es gibt ja nicht mehr viele Menschen, die sich für Sätze begeistern können wie „Das Ziel der weiblichen Erziehung hat unverrückbar die kommende Mutter zu sein.“ Der stilistische und geistige Horizont dieses Buchs kulminiert in Sätzen wie „Es liegen die Eier des Kolumbus zu Hunderttausenden herum, nur die Kolumbusse sind eben seltener zu finden“.
Geschönte Fassung seiner Biografie
Hitler liefert in „Mein Kampf“ eine geschönte Fassung seiner Biografie bis 1918 und ein politisches Programm, das auf drei Säulen beruht: auf der angeblichen Überlegenheit einer „arischen Rasse“ (deren reinste Inkarnation ihr Erfinder Arthur de Gobineau im französischen Adel sah), auf dem radikalen Antisemitismus, der die Vernichtung der Juden propagierte, sowie auf Antimarxismus, der mit der Eroberung des Ostens nicht nur die Bolschewiki in Moskau entmachten, sondern auch gleich noch neuen „Lebensraum“ für das deutsche Volk verschaffen sollte.
Originell ist an Hitlers Buch einzig die Kombination von vorgefundenem, längst verbreitetem Gedankengut. Man könnte ihn für einen Karl May der politischen Theorie halten, wenn es nicht dem Winnetou-Erfinder Unrecht täte.
Hitler legte aber die Finger in die Wunden der Weimarer Republik. Und sein demagogisches Talent sorgte dafür, dass auch wirkmächtige Sätze von scheinbarer Plausibilität entstanden. Die Furcht davor hält bis heute an: Charlotte Knobloch, ehemals Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, hält „Mein Kampf“ für „eine Büchse der Pandora, die für immer im Giftschrank der Geschichte verschlossen sein sollte.“
Qualtinger und Somuncu
Doch neben den Zehntausenden antiquarischen Exemplaren in Deutschland ist etwa der Verkauf der US-Ausgabe völlig legal; und selbst in Deutschland darf das Buch gehandelt werden, ein generelles Verbot gab es auch hier nicht. Durch die Hintertreppe des Urheberrechts hat die Bayrische Staatsregierung, der das Copyright 1945 von den Amerikanern übertragen wurde, Neuauflagen verhindert. Auch jetzt sollen neue Auflagen von Staatsanwälten verfolgt werden – sofern sie den Propaganda-Charakter des Buchs nicht durch eine Kommentierung entschärfen und Hitler „pur“ bieten.
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Die Befürchtung, die Lektüre des Buches würde gerade heute, in der aufgeheizten Debatte um Flüchtlinge und Pegida, auf fruchtbaren Boden fallen, mag nahe liegen. Sie wird aber schon vom pathosprallen Stil relativiert – das Buch entstand vor über neun Jahrzehnten! Das es sich schon zu Hitlers Zeiten um einen ungelesenen Bestseller handelte, weiß man heute besser; repräsentativen Studien der Amerikaner gleich nach dem Zweiten Weltkrieg zufolge hatte jeder fünfte Deutsche „Mein Kampf“ teilweise oder gar ganz gelesen.
Jenen Mythos nehmen
Dass „Mein Kampf“-Lesen inzwischen aber eher zur Immunisierung gegen rechtsradikales Gedankengut taugt, führte als erster der Kabarettist Helmut Qualtinger vor. Er versuchte dem Buch schon 1973 durch öffentlichen Gebrauch jenen Mythos zu nehmen, der sich durch das faktische Verbot in Deutschland erst recht gebildet hatte. Qualtingers Kollege Serdar Somuncu brachte das „Mein Kampf“-Entblößen durch bloßes Vorlesen seit 1996 gar zur mehrtausendfach geübten Perfektion.