Essen. Willy Decker, der Intendant der Ruhrtriennale, gibt den Spiritus rector der Festspiele. Sein Saison-Zyklus 2009-2011 trägt das Motto "Urmomente" und gliedert sich in die drei Teile Aufbruch - Wanderung - Ankunft. Decker spricht im Interview über sein erstes Festival-Programm.
// Überspitzt könnte man sagen, die Bitte »Veni, Creator Spiritus« habe sich erfüllt. Neuer schöpferischer Geist lässt im Revier Pfingsten sein. Insofern wäre es besser, von Willy Decker als Spiritus rector der Ruhrtriennale zu sprechen. Im Gelsenkirchener Büro des Intendanten steht eine matt golden glänzende Buddha-Figur, hängt die Zeichnung des Enso, also die Kreisform, die – in einem schwungvollen Pinselstrich gemalt – Leere und Vollendung symbolisiert. Ausgeführt hat sie Deckers Zen-Meister, von dessen Hand auch die neben der Tür hängende Kalligrafie stammt, deren vier Buchstaben-Zeichen »Alte Wege täglich neu« zu gehen auffordert. Man darf dem 1950 in Pulheim bei Köln geborenen Decker, dem von Amsterdam, Brüssel, Paris und Madrid bis Salzburg und Wien international beschäftigten Opernregisseur und dritten Triennale-Berufenen, glauben, wenn er als Quelle seiner Kreativität das Spirituelle benennt. Ebenso, dass er seine drei Festival-Jahre nicht »abwickeln« wolle, sondern als etwas begreife, das seine Kräfte konzentriert und absorbiert. Ein Beginn gemäß Goethescher »Hoffnungslust«, seit für Decker die Begegnung mit den Industriehallen – in der Duisburger Gebläsehalle hat er 2007 »Le vin herbé« inszeniert – »substanziell neu« gewesen sei. Dazu gehört für ihn die Erkenntnis, dass »das Thema Bewegung in den Hallen wichtig ist, dass die starre Perspektive des Guckkastens aufgelöst werden muss«. Sein Saison-Zyklus 2009–2011 trägt das Motto »Urmomente«. Das Programm will an die Wurzeln menschlichen Bewusstseins rühren und nach dem Urstoff unserer Existenz schürfen. Die Religion steht im Zentrum. //
Sind Sie ein gläubiger Mensch, Herr Decker?
Willy Decker: Das Wort Glaube ist ein missbrauchtes Wort, ich betrachte es extrem kritisch. Dass in unserer Sprache Glaube mit Religion gleichgesetzt wird, finde ich hoch problematisch. Es ging für mich nie darum, dass ein Faktum, ein Inhalt gesetzt wurde, an die ich hätte glauben sollen, ohne sie überprüfen zu können. Insofern bin ich kein gläubiger Mensch. Ich spreche lieber von Spiritualität – ich begebe mich mit großem Interesse in Bereiche, in denen sich Dinge erleben lassen, die über unser Alltagsbewusstsein hinausgehen.
Das Festival heißt »Urmomente« und findet diese in den drei Weltreligionen.
Willy Decker: Auch der Begriff Religion müsste präzisiert werden, wir lassen das gern unkommentiert oder unreflektiert stehen. Als Künstler geht es mir vor allem um Erlebnismöglichkeiten. Kunst ist das Instrument, um diese Felder zu betrachten und zu betreten.
Also eine Art Kunst-Religion? Sie deuten Religion und Liebe als »tragische Geschwister« und fügen die Kunst als weitere Schwester hinzu, die alle drei die »Tragödie der Worte« erleiden. Gibt es für sie Erlösung?
Willy Decker: Die kann es geben. Es gibt sie in diesen, schlagwortartig bezeichneten, Urmomenten. Sie geschehen im Erleben großer Kunst: vor einem Bild, in der Musik, wenn jemand spricht. Niemand von uns kann den Moment beschreiben, weil genau im Unsagbaren es passiert. Die Kunst kann Wegweiser da hinein sein. Keine der drei, Religion, Liebe, Kunst kann ohne die anderen bestehen.
Können Sie solch einen Moment nennen? Welches Kunstwerk hat für Sie eine derartige Erfahrung ausgelöst?
Willy Decker: Kafkas »Schloß«, das Erlebnis dieses Romans hat mich zu so einem Moment hingeführt. Nachdem ich den letzten Satz dieses Buches gelesen hatte, hat sich die Realität für mich fast aufgelöst. Ich bin für Stunden durch den Wald gelaufen, gewissermaßen in einem anderen Zustand.
Ein Initial dieser Art ist individuell. Unteilbar und nicht mitteilbar ...
Willy Decker: Genau, Sprache ist da nicht das Medium der Vermittlung. Das Erlebnis ist auch nicht verifizierbar. Wenn ich an meinen Zen-Meister Sasaki Genso Roshi denke, der spricht sehr wenig, er sträubt sich regelrecht dagegen, manchmal sitzt er vor uns und sagt: Ich schäme mich gegenüber meinen Vorfahren, dass ich Euch soviel sage. Die großen Momente passieren, wenn die Sprache den Raum hinter sich aufmacht – es geht schon auch durch die Sprache selbst, wenn sie poetisch wird.
›Prima la Musica e poi le parole‹, hat die Callas gern Salieri zitiert – diesem Diktum scheint die Triennale 2009 zu folgen. Beinahe alle Produktionen sind zumindest musikalisch grundiert.
Willy Decker: Die Callas hat es vielleicht sogar richtig gemeint. Oft aber wird der Satz missbraucht, als Schutzbehauptung. Dirigenten oder Sänger wollen sich mit ihm davor bewahren, dass man von ihnen etwas verlangt, was über das Herumstehen hinausgeht. Richtig ist, es gibt Momente in der Oper, in denen nicht mehr der Text wichtig ist, zum Beispiel das Ende der »Triviata«, sondern Dinge, die weit jenseits davon liegen. In der Musik werden sie hörbar, da stimmt dann der Satz ›Prima la Musica‹ im progressiven Sinn.
Sie beginnen die Religions-Trias mit dem Judentum, der ersten monotheistischen Religion, vom Gesetzgeber Moses begründet. Sie inszenieren selbst Schönbergs »Moses und Aron«. Auch ein Stück der Skepsis gegenüber dem Wort?
Willy Decker: Worte sind Hilfsmittel der Kommunikation, ein tragisches Instrument, wie wir seit Kleist, Hofmannsthal, Bachmann usw. wissen. Worte schlagen zwar Brücken, aber im selben Augenblick errichten sie Mauern. An denen stoßen wir uns die Stirn blutig. Das stellt Moses fest. Er muss Buchstaben sogar in Stein hauen, dabei weiß er, dass diese Tat bereits der erste Verrat an seiner Idee ist. Er sagt: ›Und es darf und soll nicht gesagt werden!‹ Schönbergs Werk endet mit: ›Du Wort, das mir fehlt.‹ Moses erkennt – und das ist das Bedeutende des Werks, dass die Lücke das ist, worum es geht. Durch die Lücke zwischen den Worten sieht man etwas anderes. Aber die Lücke ist nicht vermittelbar.
Im Judentum ist ja auch der Gott unsichtbar …
Willy Decker: … und unaussprechbar. Ich war tief beeindruckt, als ich in Jerusalem an der Klagemauer stand und die Menschen dort hart an der Wand beten sah, an dieser Demarkationslinie zwischen Ich und dem Anderen. Das Judentum begreift zutiefst, dass diese letzte Wirklichkeit nicht aussprechbar ist. Gleichwohl ist das Judentum extrem wortbezogen.
Sie bieten sechs, sieben große Bühnenproduktionen, umrahmt von experimentellen Dingen nebst Lesungen, Symposien etc. Ausgenommen Andrea Breths Kleist, dem Pasolini-Projekt »Teorema« und Ihrem Schönberg sind es fremdartige, befremdliche Veranstaltungen. Die Triennale war ursprünglich von Gerard Mortier gedacht als geistig offener Raum. Er zog eine vertikale Linie, während Jürgen Flimm eher eine horizontale, linear zeitliche Struktur mit historischen Zäsuren einbrachte. Nun kehrt die Vertikale zurück. Sie heben ab in lichte Höhen.
Willy Decker: Das kann man so sehen, und ich denke, dass es sich mit den Überlegungen von Mortier trifft, auch wenn es kein bewusstes Anti-Flimm-Programm ist. Ich bin ja kein gelernter Intendant, ich denke inhaltlich, bezogen auf das, was mir am Herzen liegt. Kann sein, dass das nicht leicht zu verdauen sein wird. Aber ich setze auf Überzeugungskraft und darauf, die Leute für die Tiefe des Themas zu begeistern.
Nehmen wir zum Beispiel Andrea Breth, die den »Zerbrochenen Krug« inszeniert, gewissermaßen die Komödie eines kosmischen Knacks’, eine Vertreibung aus dem Paradies, das bei Kleist in Utrecht liegt.
Willy Decker: Ich habe mit Andrea Breth viel über Moses gesprochen, über das Gesetz, das Wort, die Suche nach dem Wort …
… bei dem Stotterer Moses …
Willy Decker: … der mit den Worten ringt, der daran zerbricht. Dann hatte Breth die Idee vom Gesetz am anderen Ende der Skala: hier der tragische Moses, der Gesetzgeber vom Sinai, dort der komische Dorfrichter Adam, der das Gesetz verspielt, bricht, missbraucht. Ich finde es gut, den Bogen so weit zu spannen. Als Variation unseres spirituellen Generalthemas.
Aufs Ganze gesehen scheint das Programm ein Angebot von Todesvariationen. Es liest sich sehr todesverfallen.
Willy Decker: Mutter aller unserer Fragen ist doch die nach dem Tod. Je weiter man fragt, desto näher kommt man dem Phänomen. Schauen Sie sich eine Figur an wie Claude Vivier, der auf dieser Grenze balancierte, mit einer enormen Sogkraft von Todessehnsucht. Wir widmen ihm eine Kreation, verzahnt mit einem in Auftrag gegebenen fiebrigen, atemlosen Monolog von Albert Ostermaier. Bei Vivier löst sich Sprache auch auf, er schrieb eine Oper, »Kopernikus«, in einer nicht existierenden Kunstsprache. Eine absolute Phantasie. Sein eigener Tod wird förmlich Teil seines Werkes.
Erzählen Sie bitte von Vivier!
Willy Decker: Das Findelkind, geboren 1948 in Montreal, wächst im Waisenhaus auf und wird als Outsider, der sich von früh an mit der Orgel beschäftigt hat, wegen seiner homoerotischen Affinitäten rausgeschmissen. Er hat sich auf Wanderschaft begeben und u.a. in Köln bei Stockhausen Komposition studiert, die beiden haben sich nicht arg gut verstanden. Er ging dann einen sehr eigenen Weg. 1983 wurde er in Paris von einem Stricher ermordet. Verbürgt ist, dass auf seinem Schreibtisch eine unvollendete Partitur lag, das Stück trug Titel »Glaubst du an die Unsterblichkeit der Seele?« – eine Collage aus Hölderlin-Texten etc. Darin begegnet ein Mann seinem Mörder, der ihn ersticht. Das Stück bricht genau in dem Moment ab – und der Erstochene Vivier liegt daneben. Da war er 34. Betrachtet man sein Werk, bewegt Vivier sich sein Leben lang auf dieses Ende zu.
Sprechen wir noch über die Stadt der zwei Frieden, Jerusalem …
Willy Decker: Ich habe Jerusalem wahrgenommen als Ort höchster Spiritualität und gleichzeitig größter Perversion und Verzerrung von Spiritualität. Deshalb finde ich das Projekt von Jordi Savall so toll, weil er genau an diesem Brennpunkt operiert und all die Kulturen musikalisch zusammenbringt, die dort miteinander oder eher gegeneinander leben. Die Musik schafft an dem Konzertabend etwas, was Politik und Gesellschaft nicht gelingt: etwas, das wir nur als Utopie begreifen können. Ich habe das Konzert in Jerusalem als direkten Ausdruck dessen empfunden, was man atmosphärisch in dieser Stadt erlebt. Muezzine, armenische Christen, Kantore und syrische Musiker singen Psalmen in ihrer jeweils eigenen Tradition und tun dies ganz am Schluss gemeinsam, was durchaus bei einigen Zuhörern Empfindlichkeiten auslöste. An einer Stelle erklingt eine Schallplattenaufnahme von 1946/47 eines Kantors, der in Auschwitz erschossen werden sollte und darum bat, dem SS-Offizier noch das Kaddisch vorsingen zu dürfen, der Soldat war davon so bewegt, dass er ihn nicht getötet hat. Es gibt nur eine einzige Tonaufnahme dieses Kantors, eben jene Schallplatte, auf der er in Hebräisch über die Namen der Konzentrationslager paraphrasiert. Das ist ein unglaubliches Erlebnis, dass und wie Singen so in eins fallen kann mit der seelischen Situation eines Menschen. Ich hoffe, dass sich diese Kraft bei uns entfalten wird.
Interview: Andreas Wilink / erschienen in K.WEST Ausgabe Mai 2009