Essen.. Das Gesicht verzieht sich schmerzvoll, die Hände wurden zu Fäusten geballt – Anlässe für Wutausbrüche gibt es reichlich. Was können Eltern tun?
An der Kasse im Supermarkt: Jacqueline (4) hat die Ü-Eier entdeckt, will unbedingt eins haben, die Mutter sagt: „Nein, es gibt jetzt nichts Süßes.“ Und das Mädchen bekommt einen Wutanfall, es schreit, verzieht schmerzvoll das Gesicht und stampft mit den Füßen auf den Boden. Anlässe für Wutausbrüche gibt es für Kinder reichlich – eher selten liegen sie außerhalb des Normalen. Wir sprachen mit Reinert Hanswille, Leiter des Essener Instituts für Systemische Familientherapie, über die kindliche Wut.
Herr Hanswille, wann müssen Eltern damit rechnen, dass ihr Kind in die Trotzphase kommt?
Hanswille: Man sagt so über den Daumen: Zwischen zwei und sechs Jahren gibt es scheinbar eine Periode, in der Kinder stärker mal etwas verneinen. Dass sie etwas nicht wollen und dann auch richtig wütend werden, sich auf die Erde schmeißen, mit Sachen durch die Gegend werfen, aufstampfen, den Kopf auf den Boden hauen. Was auch immer für das Kind gerade der passende Ausdruck der Wut ist. Ich sage mal ein bisschen ketzerisch: Wenn’s die Trotzphase gibt, dann geht die auch vorbei.
Die Wut wallt ja oft plötzlich auf. Wie kommt es, dass sie andere Gefühle verdrängt?
Natürlich spielen da auch immer noch andere Emotionen rein. Von daher ist es ein bisschen komplex. In dieser Zeit fangen die Kinder an, eine Unabhängigkeit zu entwickeln. Sie fangen an, zu gehen und zu sprechen. Und wenn sie dann auch noch aufhören, in die Windel zu machen, beginnt die Ablösung von der Mama, dann braucht man sie nicht mehr so oft. Es ist also ein bedeutsamer Entwicklungsschritt.
Und in dieser normalen Entwicklung ist die Wut etwas Gutes?
Genau, manchmal ist die Wut sogar etwas Wünschenswertes. Geschickte Eltern wissen das und sie zeigen das dem Kind, indem sie die Affekte des Kindes regulieren, Etwa durch ihre Ansprache, indem sie zwar auf das Kind eingehen, aber letztlich bei ihrer Position bleiben. Oder durch emotionales Mitgehen zeigen, wie man so starke Wutanfälle reguliert. Das muss das Kind ja lernen, das kann ein Kind nicht von sich aus. Die Eltern liefern das Beispiel, wie Emotions- und Affektregulation stattfindet.
Haben Sie erlebt, dass kindliche Wutanfälle auch manchmal schon etwas Pathologisches oder Therapiewürdiges haben?
Natürlich. Es gibt Wut, die nicht mehr ganz gesund ist. Zum Beispiel, wenn Kinder die Wut generieren, weil sie über die Wut eine Regulation in der Gesamtfamilie herbeiführen. Die merken: Es gibt zwischen den Eltern Konflikte, die aber nicht zwischen den Eltern ausgetragen, sondern über das Kind umgeleitet werden. Die Eltern haben etwa miteinander Krach, der wird aber nicht offen ausgetragen. Und sobald das Kind etwas tut, das nicht passt oder schneller vorangehen soll, dann wird auch die Ansprache der Eltern relativ aggressiv und stark. Dann würde man sagen: Die Kinder reagieren in der Regel durch eine Kompensation, indem sie ihre Wut noch verstärken und sie praktisch die Wut der Eltern aufeinander spiegeln. Das nennt sich dann familiendynamische Inszenierung.
Und darüber hinausgehend?
Wir erleben in der Therapie auch, dass die Wut in ganz extremen Fällen bis zur Selbstverletzung gehen kann. Dass die Kinder mit dem Kopf auf den Boden schlagen oder mit den Händen gegen die Wand trommeln, bis sie bluten. Dann passiert Folgendes über die Verletzung: Die Wut kippt in Traurigkeit und Schmerz. Aber grundsätzlich würde ich sagen: Wut ist ein wichtiger Affekt, Kinder müssen lernen, dass sie wütend sein dürfen, denn das gehört zum Leben.
Warum ist Wut ein gesellschaftliches Tabu?
Erwachsene, die anfangen, ihren Wutaffekt zu regulieren, haben oft die Angst: „Wenn ich mal richtig aus der Haut fahre, dann kann ich nicht aufhören!“ Wenn man zum Beispiel etwas über aggressive Menschen liest oder hört, dann hat man das Gefühl: Die können sich nicht richtig kontrollieren. Aber das ist eine wichtige Fähigkeit, weil die Menschen auch Frustrationen aushalten müssen. Und gesellschaftlich gesehen hat man in den 70er- und 80er-Jahren gesagt: Man ist nicht wütend als Erwachsener, das ist ein kindhaftes Verhalten. Ich glaube, das ist echt ein Irrtum. Wut ist ein Affekt, den haben Menschen. Und es gibt Menschen, die sehr gut ihre Wut spüren und wissen, welchen Hinweis ihnen die Wut gibt.
Wie begegnen die Eltern am besten kindlichen Wutanfällen?
Was auf keinen Fall passend wäre: Sie zu ignorieren. Also bitte nicht sagen: „Du bist jetzt wütend, geh in dein Zimmer.“ Wenn ein Kind traurig ist, würde ja auch kein Elternteil sagen: „Das ignoriere ich.“ Man wird versuchen, das Kind zu trösten. Es geht aber auch nicht immer darum, die Wut zu beseitigen. Und schon gar nicht, dem Kind zu sagen: „Ach komm, dann kriegst du eben deinen Willen.“ Lieber sagen: „Es ist in Ordnung, dass du wütend bist, das ist jetzt so.“ Und dann kann man beginnen, Kindern das zu erklären. Für manche Kinder ist es auch gut, in den Arm genommen zu werden. Manche Kinder regulieren sich besser über Physiologie, also über Berührung. Man sollte sich auf die Höhe der Kinder begeben und sie angucken, wenn man ihnen etwa sagt: „Ich kann verstehen, warum Du stinkig bist.“ So dass das Kind merkt: Meine Wut wird von meiner Mama und meinem Papa gesehen und auch verstanden.
Was kann ich falsch machen?
Was häufig der Fehler ist, den Eltern begehen: Sie denken, mein Kind ist wütend, ich gebe ihm jetzt seinen Willen und dann ist’s gut. Ich gebe also dem Trotz nach. Das ist schwierig, das sollte man sich genau überlegen und es zumindest nicht zu oft machen. Dann wissen die Kinder nämlich, dass sie sich so durchsetzen können, denn sie sind ja nicht dumm. Die meisten Kinder haben intuitiv eine große Gabe. Manchmal ist es zwar auch in Ordnung, wenn man Kindern nachgibt. Aber auf Dauer ist das kein guter Ratschlag.
Also ist es wichtig, regelmäßig Grenzen aufzuzeigen?
Wenn Kinder wütend sind, lernen sie darüber auch, ihre Frustrationstoleranz zu erweitern. Sie begreifen nach und nach: Es geht nicht immer so, wie ich will. Das wird spätestens wichtig, wenn die Kinder in die Schule kommen, dann müssen sie sich ständig anpassen.
Was halten sie davon, dass Kinder ihre Wut auf eine Art „Wutmonster“ schieben sollen?
Das mit den „Wutmonstern“, die die Kinder sich einfach vorstellen sollen, das ist eine gute Idee, therapeutisch nennt man das „externalisieren“. Dabei wird eine Emotion, die tief in einem drin ist, nach außen gebracht und eben auf dieses „Wutmonster“ projiziert. Und darüber beginnt man dann, in eine Distanzierung von diesem aktuellen und oft überwältigenden Gefühl zu kommen. Man muss allerdings auch immer gucken, dass man das nicht überstrapaziert, denn viele Dinge klappen nicht unendlich oft.