Essen/Dortmund..

Der Graf sorgt für Gänsehaut - entweder vor Begeisterung oder vor Grauen angesichts der permanenten Medienpräsenz. Entziehen kann man sich der Musik von Unheilig momentan jedenfalls kaum. Die Betrachtung eines Massenphänomens.

Auf einmal war er da, der Graf. Bimmelte als Handy-Klingelton in der Bahn, spielte in ausverkauften Arenen, gewann Auszeichnungen und Preise. Ein düsterer Grönemeyer, der seinen Stil zwischen brachialem Rammstein-Sound und dem leidenschaftlichen Pathos alter Filmmusik-Komponisten gefunden hat. Seinen richtigen Namen will er nicht verraten, und auch um sein Privatleben macht er ein Geheimnis.

Das Album „Große Freiheit“ belegt seit Monaten die Spitzenplätze der Charts. Einträchtig versammelt seine Band Unheilig auf den Konzerten verträumte Geschäftsmänner, Berufsschüler mit Ed-Hardy-Kappe und einige treue Fans aus der schwarzen Szene vor der Bühne. Aber was macht den charismatischen Aachener mit dem komischen Dreiecksbart zum Massenphänomen?

Der Graf als Stoffpuppe - mit Eckbart und kahl rasiert, waschbar bis 30 Grad

Fairerweise muss man sagen, dass der Graf fleißig an seiner musikalischen Karriere gearbeitet hat. Zehn Jahre bevor man ihn als Stoffpuppe kaufen kann („mit Eckbart und kahl rasiert, waschbar bis 30 Grad“) erinnerte er optisch ein wenig an einen ungruseligen Vampir und bewegte sich mit seiner Musik vornehmlich in der schwarzen Szene. Aber dann hängt der Herr Graf seinen Brokatmantel in den Schrank und verzichtet zu Gunsten der Sozialverträglichkeit auf schwarzen Nagellack und weiße Kontaktlinsen, um fortan im dezenten Anzug die Bühne zu betreten .

Derart familienfreundlich in Szene gesetzt, kann der Musiker ein Publikum fernab der Subkultur erreichen. Und trifft auf dankbare Abnehmer, die schlichtweg nicht in Stimmung sind für dümmlich-unflätige Atzen-Songs oder eine poppig-schrille Lady Gaga.

Zu rührigen Unheilig-Texten lässt sich schließlich ganz wunderbar ins Kissen heulen. Der Nummer-1-Hit „Geboren um zu leben“ läuft seit Monaten als Dauerbrenner auf Beerdigungen und kann zudem hervorragend und universell zur Betrauerung von zerbrochenen Beziehungen, zerstrittenen Freundschaften oder eingeschläferten Haustieren eingesetzt werden. Zeilen wie „Geboren um zu leben, für den einen Augenblick, bei dem jeder von uns spürte, wie wertvoll Leben ist“ haben gerade so viel Tiefgang, dass die Fans ihm Betroffenheit und Nachdenklichkeit abnehmen können, ohne aber von Komplexität überfordert zu werden.

Zudem hat sich der Graf stets den Hauch einer geheimnisvollen Aura bewahrt. Schwarze Szene, sonore Stimme, düsterer Blick und dann dieser merkwürdige Bart – das ist Hausfrauen-Mystik, die massenkompatibel Individualität suggerieren kann. Einige Fans der alten Gothic-Tage reagieren auf die erfolgreiche Vermarktung verstimmt und wenden sich ab.

Allerdings scheinen selbst die Fragmente des Vampir-Images immer noch erschreckend genug zu sein, so dass der Künstler in Interviews regelmäßig erklären muss, ob er nachts über Friedhöfe strolcht oder gar ein Satanist ist. Er bete jeden Tag und zahle sogar Kirchensteuer, wird er nicht müde zu betonen. Hinter der düsteren Fassade des Grafen steckt nämlich ein äußerst sympathischer, fast schüchterner Mensch, dem sein Erfolg noch immer nicht ganz geheuer zu sein scheint. „Für einen Rockstar bin ich ganz schön langweilig“, stellt er in einem Interview fest. Man glaubt es ihm sofort.

Unheilig treten am 14. Januar in der (ausverkauften) Westfalenhalle Dortmund auf.