Talinn.. Der kleine baltische Staat Estland setzt seit 20 Jahren auf das freie Internet. Niemand muss sich dort einen halben Tag frei nehmen, um ins Rathaus zu gehen. Viele Behördengänge erledigen die Menschen übers Internet. Für die Bevölkerung ist es mittlerweile ein Grundrecht.
Draußen weht ein kräftiger und kalter Wind von der Ostsee durch Ülemiste City. Das Gewerbegebiet mit rund 200 Firmen aus der Internet-Wirtschaft liegt am Flughafen von Tallinn. Das Thermometer schafft es in diesen Tagen kaum über die Null-Grad-Grenze. Estland ist ungemütlich. Eigentlich ein Wetter, um auf dem Sofa zu bleiben. Was aber, wenn die Verlängerung des Personalausweises ansteht oder gar eine wichtige Wahl?
Dann bleibt Indrek Vimberg trotzdem im Warmen. „Ich kann fast alle Behördengänge per Computer von Zuhause aus erledigen. Sogar wählen. Ist doch super.“ Indrek Vimberg wird dafür bezahlt, dass er so etwas sagt. Er leitet das ICT-Demo Center von Estland, das Geschäftsleuten und Regierungen erklärt, wie ein Land funktioniert, das voll auf die Karte Internet gesetzt hat. Fotos an der Wand der Flure des auf den Namen „Technopolis“ getauften nordisch nüchternen Bürokomplexes zeigen ihn und seine Mitarbeiter mit Staatsoberhäuptern aus aller Welt. Aber die Meinung des IT-Fachmanns spiegelt offenbar auch die Einstellung seiner Landsleute wider. Das Internet frei und überall zu nutzen, ist für die meisten der 1,3 Millionen Esten zu einem Grundrecht geworden.
Das Netz ist überall
Netz ist überall. Im Café, im Zug, sogar im Wald. Es gibt 1129 öffentliche Zugangspunkte für Internet-Nutzer. Kostenlos. 99 Prozent der Bevölkerung erledigen nach offiziellen Angaben der Regierung ihre Bankgeschäfte online. Zum Vergleich: In Deutschland sind es 44 Prozent. 92 Prozent der Esten füllen ihre Steuererklärung am Computer aus und 24,3 Prozent gaben ihre Stimme bei der jüngsten Parlamentswahl 2011 per Internet ab. Alles, was es dazu braucht, ist ein Kartenlesegerät, in das der mit einem Datenchip versehene Personalausweis gesteckt wird. Per USB-Kabel ist es mit dem Computer verbunden. Es funktioniert selbstverständlich auch per Smartphone – ohne Kabel. Über das I-Vote-System kann der Wähler seine Stimme abgeben, gesichert durch zwei Passwörter. Die estnische Regierung verspricht, der Bürger bleibt anonym.
Und das ist sicher?
„Ja“, sagt Jaan Priisalu, Direktor der Information System Authority (ISA). Er war 2007 Sicherheitschef einer Bank, als Estland von mutmaßlich russischen Hackern angegriffen wurde. In Tallinn blieb für mehrere Stunden der Strom aus, an Geldautomaten gab es mehrere Tage kein Geld. Seitdem habe das Land seine Schutzmechanismen im Cyberraum erhöht. Seine Behörde gehört dazu. Die ISA ist in einem fünfstöckigen Bürogebäude im Bankenviertel untergebracht, fünf Minuten von der historischen Altstadt Tallinns entfernt. Sie koordiniert alle staatlichen Organe im Bereich Kommunikation, von der Polizei, Stadtverwaltungen und Finanzamt bis zum Gesundheitswesen. Zudem bietet die ISA auch privaten Unternehmen (Banken, Energieversorgern) Selbstständigen, und jedem Bürger die Möglichkeit, sich an ihr System anzuschließen. Damit können die Esten mit allen Bereichen, die für ihr Leben relevant sind, per Internet in Kontakt treten.
X-Road heißt das zentrale Rückgrat des estnischen Internets. Eine digitale Hauptstraße, an der der private und öffentliche Sektor wie Nebenstraßen münden. Eine einfache Erklärung für ein kompliziertes Schaubild, das Jaan Priisalu im Konferenzsaal präsentiert. Es hat viele Farben, Pfeile, gepunktete und durchgezogene Linien, miteinander verbundene Zylinder und Quader. Der Clou von X-Road: seine Dezentralität. Jeder Teilnehmer steuert sein eigenes Sicherheitssystem. Es gibt keinen zentralen Besitzer oder Kontrolleur.
Ich sehe als Patient, welcher Arzt sich meine digitale Akte anschaut
„Wenn ich mich einlogge, kann ich als Patient sehen, welcher Arzt sich meine digitale Akte anschaut. Ebenso, wann die Polizei mich im Verkehrsregister gesucht hat“, sagt Indrek Vimberg. Jeder angeschlossene Bereich habe nur Zugang zu den für ihn relevanten Daten. Die Polizei könne zum Beispiel nicht die Krankenakten einsehen, Energieversorger nicht auf das Bankkonto eines Kunden blicken. Haben Behörden und Privatleute sich unbefugt Zugang zu den persönlichen Daten verschafft, können die Esten das der ISA melden. Strafverfahren sind die Folge.
Estland ist seit fast 20 Jahren Vorreiter in Sachen elektronische Mobilität. Als das Land (kleiner als Niedersachsen) sich 1991 aus der Sowjetunion herauslöste und damit nach 1920 zum zweiten Mal unabhängig wurde, stellte die Regierung fest, wie teuer es ist, einen eigenen Staat zu unterhalten. Also beschloss sie, Estland im Rahmen des Bürokratieabbaus zu digitalisieren, um es effizienter zu machen. Das Kabinett tagt seit dem Jahr 2000 am Laptop. Das Wort „Drucksache“ gibt es nicht. Dies spare Zeit und mache die Entscheidungsprozesse für die Bürger transparenter. Auch Behördengänge werden im Netz erledigt. Innerhalb von 20 Minuten soll es möglich sein, ein Unternehmen zu gründen und zu registrieren.
Weniger Zeit auf dem Amt, mehr Zeit für Freizeit
Eine Umfrage hat ergeben, dass die meisten Zugriffe auf die Internetseiten von Ämtern am Samstag stattfinden. „Es geht alles viel schneller. Niemand muss sich einen halben Tag frei nehmen, um ins Rathaus zu gehen. Das bringt mehr Freizeit und nutzt auch den Arbeitgebern“, sagt die Journalistin Eva Samolberg. Außerdem beuge es der Korruption vor: „Du kannst einen Computer schlecht bestechen.“
Also alle zufrieden?
Nicht ganz, Die Zentrumspartei, die 2011 die zweitmeisten Stimmen holte, ist gegen die totale Elektronisierung Estlands. „Sie hat viele ältere Menschen in ihrer Wählerschaft, die Angst vor Datenklau haben“, sagt Indrek Vimberg. Aber, die meisten Menschen vertrauten dem Internet und ihre Zahl wachse. Bis vielleicht wieder ein großer Hackerangriff das Land lahmlegt.