Oberhausen. Ohne die Arbeit von Gerüstbauern könnten andere Handwerker wie Maler und Dachdecker nicht gefahrlos arbeiten. Sie selbst schuften ohne Sicherheitsnetz.
Die Welt sieht von oben anders aus. Über Dächer und Bäume geht der Blick in die Ferne, bedrohlich wirkende Erwachsene schrumpfen auf niedliche Zwergengröße. Bereits als kleiner Junge kletterte René Pascal Roes gerne, immer weiter nach oben, von Ast zu Ast. Noch heute sieht er die Welt gerne aus der Vogelperspektive. „Ich mag die Höhen“, sagt der 19-Jährige. Aber nun bezwingt er nicht mehr Bäume, sondern Fassaden. Er baut Gerüste an Wohn- und Hochhäusern, damit Maler oder Dachdecker sicher arbeiten können.
Roes könnte mit der ausgestreckten Hand die oberen Balkone des zweistöckigen Mehrfamilienhauses in Oberhausen berühren. Aber er sucht keinen Halt. Er geht bis zum Rand des Gerüsts und schaut hinunter in den Garten. Wie ein Wasserspringer steht er da, geht in die Hocke – und nimmt einen Vertikalrahmen entgegen, den ihm ein Kollege anreicht.
Wer nicht schwindelfrei ist, hat in diesem Beruf nichts zu suchen. Höhenangst muss ein Fremdwort sein. Selbst Roes, der Höhen-Liebhaber, spürte bei seiner ersten Baustelle ein mulmiges Gefühl im Bauch. Heute, nach einem halben Jahr, sagt er abgeklärt: „Ab 15 Metern ist man ein bisschen vorsichtiger.“
Als ob der u-förmige Metallrahmen nicht 18 Kilo, sondern vielleicht nur 1,8 Kilo wiegen würde, zieht Roes ihn nach oben und steckt ihn in die vorgesehenen Löcher des Gerüsts, in die „Zapfen“. Erst dann denkt er an seine Sicherheit und befestigt vor seinem Bauch eine Stange – das Geländer. Eine erste Holzbohle wird ihm von unten angereicht, eine zweite. Diese balanciert er über dem Kopf und steckt sie auf den Gerüstrahmen. „Das ist ein genormtes Stecksystem“, erklärt sein Chef Hans Werner Tenbusch. „Das ist ein bisschen wie Lego – nur für Große.“
Die Stangen fliegen durch die Luft
„Alles wird per Hand hochgepumpt“, sagt Roes. Der nächste Rahmen wandert von einem Mann zum anderen, von einer Etage zur nächsten. Gerüstbau ist Teamarbeit. Manchmal fliegen die Stangen auch nur so durch die Luft . Dann fängt sie einer der vier Männer in den oberen Etagen auf – ohne dabei das Gleichgewicht zu verlieren. „Man muss den anderen vertrauen,“, sagt Roes. Vertrauen, dass sie wirklich fangen. Wenn einem eine Bohle aus den Händen gleitet und auf den Kopf des anderen fällt. . . „Das will keiner!“ Denn nicht nur der Gerüstrahmen, sondern eine Holzbohle wiegt ebenfalls 18 Kilo. „Wenn sie nass ist, auch schon mal 20 Kilo“, so Tenbusch von der gleichnamigen Firma aus Mülheim. „Das sind Tonnen, die sie am Tag bewegen.“
Tenbusch baut seit 30 Jahren Gerüste auf. Zehn davon hat er in Akkord gearbeitet. So durchtrainiert er auch wirkt: „Ich hatte vier Bandscheibenvorfälle“, sagt der 56-Jährige und tippt dann auf weitere Schwachpunkte, die ihm die körperliche Arbeit beschert hat: Schulter und Knie.
Seit den 90er-Jahren ist der Gerüstbauer ein Lehrberuf. Aber auch Angelernte haben noch eine Chance, sagt Tenbusch. Wenn sie denn mit anpacken wie Roes. „Ich finde kein Personal“, klagt Tenbusch. Viele Bewerber wollten eigentlich lieber am Computer arbeiten. Und: „Die jungen Burschen haben keinen Führerschein.“ Und sie brauchen einen für den Lkw. Schließlich müssen sie das ganze Material, das der Chef auf der Baustelle für den Arbeitstag ausgerechnet hat, bereits morgens komplett mitnehmen.
Nach eineinhalb Tagen Arbeit stehen nun die Gerüste an drei Hauswänden. Eine Seite wird noch mit einem weiteren Schutz versehen: Roes fädelt ein zwei Meter hohes Netz auf eine Stange, und noch eine – und befestigt es so auf der letzten, der fünften Gerüstetage. Damit die Dachdecker nicht in die Tiefe stürzen, wenn sie ausrutschen. Und was passiert, wenn ein Gerüstbauer da oben ausrutscht? Für Roes gibt es kein rettendes Netz. Hans Werner Tenbusch hält den Kopf schief und sagt dann etwas leiser: „Das sollte nicht passieren. . .“
Ist es bisher auch noch nicht, fügt er schnell hinzu. Zumindest in seinem Unternehmen. „Da bin ich sehr stolz drauf.“ Und darauf, dass noch nie ein Gerüst von ihm umgefallen ist. Man glaube ja gar nicht, was der Wind für eine Kraft hat. Und wenn dann noch eine Plane am Gerüst hängt, damit es bei den Handwerksarbeiten nicht so staubt, dann bläst der Wind da rein wie in ein Segel. „Und das Gerüst liegt quer in der Fußgängerzone.“
Roes nimmt einen Schlagbohrer in die Hand und bohrt Löcher in die Außenwände. So verankert er das Gerüst an der Wand mit großen Dübeln und Ringösen, an denen ein so genannter Anker befestigt wird, der mit dem Gerüst verbunden ist. Die Ringösen halten nicht in jedem Mauerwerk. „Das ist ein sehr altes Haus“, sagt Tenbusch und schaut die Giebelseite hinauf. Die Backsteinwand sei porös, da setze er lieber eine Verankerung mehr als eine zu wenig. „Wenn es nicht richtig verankert ist, kann das Gerüst umkippen. Schlimm, wenn dann noch Leute darauf arbeiten...“ An mehreren Stellen hängen die Männer zudem Querverstrebungen ins Gerüst. Tenbusch: „Sonst könnte es seitlich kippen.“
Regen und Wind stört sie selbst aber nicht bei der Arbeit. Bei Schnee und Glatteis sieht das schon anders aus. Und erst recht bei Blitz und Donner. „Da sind die Jungs schneller runter als Sie gucken können.“ Wer will schon auf einem Gerüst stehen, wenn dort ein Blitz einschlägt?
Dann laufen die Männer durch einen Leitergang hinab: Auf jeder Gerüstetage wird eine so genannte Leitergangtafel mit einer Luke anstelle der Bohlen gelegt. Über Leitern, die man hoch- und runterklappen kann, klettern sie hinunter. Und wieder hinauf. Mit dabei am Gürtel sind stets Zollstock, Wasserwaage und Ratschenschlüssel. Tenbusch: „Nach dem Hammer das wichtigste Werkzeug.“
Aber nicht nur Kraft ist beim Gerüstbauen gefragt. Schon am Anfang muss Roes ans Ende denken: Denn die Bohlen der letzten Etage sollen 80 cm unterhalb der Regenrinne sein, die ausgewechselt wird. „Die Dachdecker möchten im Stehen arbeiten“, sagt Tenbusch. „So haben sie die Rinne direkt vor ihrem Bauch.“
Nach der Arbeit braucht Roes nicht mehr ins Fitnessstudio zu gehen: „Dann bin ich platt. Noch ein Bierchen trinken und dann ab ins Bett.“ Bevor er sich am nächsten Morgen wieder nach oben arbeitet, von einer Gerüstetage zur nächsten, und sein Blick in die Ferne schweift.