Gelsenkirchen.. Ruhr.2010 wollte dieses Projekt nicht unterstützen. Trotzdem wächst nun in Gelsenkirchen ein einzigartiges Schallarchiv – Karl-Heinz Gajewski sammelt Originaltöne der Literatur aus dem Ruhrgebiet, digitalisiert sie und stellt sie ins Internet.

Ein Denkmal stellt man sich aus Marmor vor, massiv, unverrückbar. Der Gelsenkirchener Karl-Heinz Gajewsky aber errichtet eine Skulptur aus Klängen: Wörtern, Sätzen, Gedanken. Auf der Internet-Seite reviercast.de sammelt er Tondokumente zur Revierliteratur.

Die Idee zum Schallarchiv hatte der 59-Jährige als Ruhr.2010-Projekt eingereicht. Und, als weder eine Zu- noch eine Absage kam, mit der Arbeit trotzdem begonnen. Schließlich sind wir hier im Ruhrgebiet.

Arbeit: Ein Schlüsselwort für Gajewsky und für die Revier-Literaten von einst, die sich in der „Literarischen Werkstatt Gelsenkirchen“, der „Gruppe 61“ oder dem „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“ fanden. Eine nahezu versunkene Welt, der Gajewsky nachspürt in einem Büro, das einem Studio gleicht. Interviews kann er hier aufnehmen, hinter doppelverglasten Fenstern und dichten Gardinen vor den Wänden. Gajewsky, ein „auditiver Mensch“, hat auf die Suche nach „dem perfekten Klang“ reichlich Lebenszeit verwendet.

Akrobatische Gedichte

Im Netz können wir nun hören: wie Günther Nehm seine akrobatischen Gedichte las, wie Ilse Kibgis sprach, wie der Mülheimer Günter Westerhoff sich an den Krieg erinnert. Oder auch zeitgenössischeren Klängen lauschen: einer Lesung von Marion Poschmann etwa, einer Laudatio auf Judith Kuckart, dem Interview eines Krimi-Autors oder auch Vorträgen, Diskussionen rund um die Revierliteratur. In einer Ecke seines Heim-Studios liegen Video-Kassetten, die Gajewsky nach und nach digitalisiert: „Was da in den Archiven herumliegt, die alten Videos gehen doch kaputt! Ich würde gerne durch das Ruhrgebiet ziehen und das retten...“ Allein, auch seine Zeit ist knapp.

Warum macht einer das? „Ich bin gar kein Vielleser“, sagt Gajewsky, der seit 25 Jahren als Sozialarbeiter in Gelsenkirchen Dienst am Menschen leistet – an Jugendlichen, Straffälligen, psychisch Kranken. „Ich erlebe ja selbst die unglaublichsten Geschichten. Wenn Literatur davon erzählt, wie Leben sein kann – dann fällt das oft ab gegen das, was ich täglich sehe.“ Die Erklärung für Gajewskys Liebe zur Revierliteratur findet sich im Jahr 1978. Da hörte er im Gelsenkirchener DGB-Haus den „Werkkreis“-Autor Richard Limpert: „Das war ein Erweckungserlebnis. Diese alten Barden haben die Sprachlosigkeit ihrer Generation, ihrer Klasse überwunden.“

„Hunger nach Texten“

Und nun muss man noch ein wenig weiter in die Geschichte reisen, um zu verstehen: Auch Gajewskys Vater war, ebenso wie Limpert, „Spätheimkehrer“ aus Russland, in seiner Kindheit erlebte er „existenzbedrohende“ Situationen. Krieg und soziale Ungerechtigkeit: dagegen kämpft er seither. Auch singend. Als Liedermacher führte ihn sein „Hunger nach Texten“ zur Literatur der Arbeitswelt. Seine Gruppen hießen „Irrlicht und Feuer“, „Vor Ort“, „Zündholz“, sie vertonten Arbeiterliteratur, Aufschreie.

„Warten Sie mal“, sagt Gajewsky, „ich habe da etwas auf meinem Smartphone“. Und dann läuft über den kleinen Bildschirm ein Video, das einen noch nicht ergrauten Sänger mit Bart zeigt vor der Kulisse von Zollverein, wo noch Batterien gelöscht wurden und Kokskohle glüht. „Kumpel, heute schlaf ich nicht, heute schlage ich Alarm“, singt ein jüngerer „Kalle“ Gajewsky da. Der Text stammt von Richard Limpert.

Soziale Ungerechtigkeit

Schön, wirklich. Aber: Dass die Kokskohle glühte, das war ja gestern. Warum sollten wir heute noch solche Texte lesen wollen, Herr Gajewsky? Er überlegt, aber nicht lange. „Wenn ich wachen Auges durch die Welt gehe, sehe ich soziale Ungerechtigkeit, und mein Herz wird dadurch angerührt. Wenn man diese Fähigkeit zum Mitfühlen hat, dann rühren auch diese Texte an. Mich jedenfalls berühren sie.“