Essen.. Wer Tauziehen als harmlosen Zeitvertreib abtut, sollte mal einen Blick in die Vergangenheit riskieren: Der Wettkampf am Tau war einst genauso eine olympische Disziplin wie das Seilklettern, der Standweitsprung und das Steinstoßen.
Oliver Kuck aus Oberhilbersheim bei Bingen ist ein Weltstar in seiner Disziplin. Nie gehört? Der Mann ist siebenmaliger Weltmeister und hält mit 21,71 m den Weltrekord. Im Kirschkern-Weitspucken. Ob es im weitesten Sinne ein Sport oder doch nur ein Spaß ist, den Kern einer Kirsche in die Landschaft zu speien, darüber könnte man diskutieren, aber olympisch war und ist der Wettbewerb nicht.
Aber, jetzt mal ehrlich, hätten Sie gewusst, dass Tauziehen 20 Jahre lang als eine der spannendsten Sportarten der Olympischen Spiele galten? Ein dänisch-schwedisches Sextett gewann 1900 im Bois de Boulogne von Paris gegen den Racing Club de France die Goldmedaille. Acht Jahre später gab es in London einen der ersten Skandale der olympischen Geschichte. Im Tauziehen-Viertelfinale traf die Liverpooler Polizei auf das US-Team, das sich mit Ralph Rose und John Flanagan, den Olympiasiegern im Kugelstoßen und im Hammerwurf, verstärkt hatte.
Die Bobbies gewannen den ersten Durchgang mühelos, doch die amerikanische Delegation legte Protest ein. Die Liverpooler trugen Schuhe mit Nägeln, um auf dem Rasen einen sicheren Halt zu haben. Die Jury, die nur aus Engländern bestand, wies den Protest ab, da zur Dienstbekleidung der Beamten auch diese Schuhe gehörten und deshalb gemäß Reglement zugelassen waren. Die Amerikaner weigerten sich, zum zweiten Durchgang anzutreten. Das Gold ging an die Polizei der Stadt London, Liverpool holte Silber.
Der menschliche Frosch
Ein Star der Spiele von 1908 kam trotzdem aus den USA. Ray Ewry war zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts einer der berühmtesten Sportler der Welt. Und das – obwohl seine Disziplinen heute in Vergessenheit geraten sind. Der 1873 in Lafayette/Indiana geborene Ewry war der unumstrittene Meister der Standsprünge. Kein Wunder, dass er unter dem Titel „The Human Frog“ (der menschliche Frosch) berühmt wurde.
Seine Lebensgeschichte bewegte die Amerikaner. Im Alter von fünf Jahren erkrankte er an Kinderlähmung und war jahrelang an den Rollstuhl gebunden. Für eine klassische Leichtathletik-Karriere im Sprint oder Weitsprung reichte es nicht mehr. Aber seine Weltrekorde im Standweitsprung (3,47 m), Standhochsprung (1,655 m) und Standdreisprung (10,58 m) zeugen von einer außergewöhnlichen Begabung.
Das lässt sich an den heutigen Ergebnissen ablesen, denn die Liebhaber der vergessenen Sportarten kommen nicht an die Leistungen von Ewry heran. Kopfweitsprung, Hindernisschwimmen oder Steinstoßen: Bei den Retrolympics leben die einstigen Disziplinen weiter, auch wenn es für die Sieger kein olympisches Gold mehr gibt.