Essen.. Der Schwede Henning Mankell hat ein neues Buch geschrieben. In “Treibsand“ schreibt er über prägende Momente, den Krebs und den Zustand der Welt.
Was bleibt von einem Leben, wenn es endet? Hinterlassen wir einen Fußabdruck auf der Erde – und wie lange wird er sichtbar sein? Diese Fragen werden womöglich umso drängender, je näher der Tod zu rücken scheint. Der schwedische Schriftsteller Henning Mankell schrieb gerade an einem neuen Buch, in dem er nicht weniger als den Zustand der Welt verhandelte, als er mit harmlos scheinenden Nackenschmerzen zum Arzt ging – und mit einer gravierenden Krebsdiagnose nach Hause zurückkehrte. Nun, anderthalb Jahre später, erscheint das Buch: „Treibsand“ ist ein Vermächtnis, ein Fundus an Lebensweisheiten und Gedankenschnipseln, eine Reise in das Mankell-Universum.
Der erste Eindruck ist verstörend. Struppig, sprunghaft und zuweilen pathetisch. Dann aber beginnt diese ganz besondere Mankell-Magie zu wirken, die auch die persönlichen Begegnungen mit dem schreibenden Tausendsassa prägt. Mankell interessiert sich einfach für alles, er hat eine Meinung zu beinahe jedem Thema, und er stellt sich – nein, nicht in den Mittelpunkt, aber eben doch in Beziehung zur Welt. Deshalb scheint hier der moderne Plastikmüll im Meer erzählerisch direkt auf die rätselhaften Götterstatuen der Osterinsel zuzutreiben, deshalb erfahren wir viel über die Entstehung von Höhlenmalerei und welche spannende Rolle das Echo dabei spielte, lesen aber auch immer wieder über die Endlagerung von Atommüll in Schwedens Felsgestein – wie soll man die Menschen in hunderttausend Jahren nur davor warnen, welche Zeichen, Sprachen verwenden?
„Solange ich mich an die Toten erinnere, leben sie“
Was bleibt von uns? Mankell reicht die Frage weiter an die Menschheit, an uns: Wie gehen wir mit der Erde um, was können wir von unseren Vorfahren lernen – und was weitergeben? Unter dieser Fragestellung sind denn auch die persönlichen Episoden schlüssig, die Mankell einstreut. Wie er als Neunjähriger auf dem Schulweg im Dorf Sveg plötzlich erkannte: „Ich bin ich und kein anderer.“ Wie er ohne Mutter aufwuchs, die ihre Familie so früh verließ, dass ihr Sohn sich nicht an sie erinnern konnte. Wie er mit 16 Jahren von der Schule abging, um nach Paris zu ziehen, „am Boden der Gesellschaft“ lebte. Wie er mit dem ersten eigenen Bühnenstück durch Schweden tourte, wie er ein Theater in Maputo gründete: Mankell denkt zurück an Stationen seiner Menschwerdung und Reifung, vielleicht nicht nur für uns Leser, sondern ein wenig auch für sich selbst. Um eben nicht in dem geistigen „Treibsand“ zu versinken, jenem Abgrund, in den die Krebsdiagnose ihn hinabziehen wollte.
Denn obwohl Mankell am Ende verrät, dass die Ärzte ihm eine „Atempause“ vom Krebs versprechen konnten, leugnet er ja nicht die Härten der Chemotherapie, die innere Müdigkeit: „An manchen Tagen trieb ich völlig schwerelos durch ein leeres und kaltes Universum, ohne Sinn, ohne Ziel.“ Trost und Halt findet er – nein, nicht in der Religion, denn „mir kommt die Religion wie eine Entschuldigung dafür vor, dass man die Grundbedingung des Lebens nicht akzeptiert. Hier und jetzt, mehr ist es nicht.“ Trost und Halt findet er, in einsamen Stunden, in Büchern.
Vor allem aber findet er Trost in den Begegnungen mit Menschen, Begegnungen, die ihn prägten und begleiteten. „Nie habe ich begriffen, warum man mit den Toten keinen Umgang mehr haben oder mit ihnen nicht mehr befreundet sein kann, nur weil sie als lebende Wesen nicht mehr existieren. Solange ich mich an sie erinnere, leben sie.“
Womöglich ist Henning Mankells ausuferndes, aufgewühltes Erinnerungsmeer von einem Buch vor allem anderen ein leuchtender Signalruf: Sich doch, bitte, eines Tages an ihn zu erinnern. Und ihn in aller Freundschaft lebendig zu halten.