Essen.

Wolfgang Herrndorf ist Schriftsteller und er hat einen Hirntumor. Seine Ärzte geben ihm 17 Monate. Zwölf sind schon um und Herrndorf führt Tagebuch im Internet. Gleichzeitig arbeitet er wie besessen an neuen Werken.

Aus dem Internettagebuch von Wolfgang Herrndorf, 8.3.2010, 13 Uhr: „Gestern haben sie mich eingeliefert. Ich trug ein Pinguinkostüm.“ Wolfgang Herrndorf ist nicht irre. Er ist tödlich erkrankt. Der Schriftsteller trägt einen bösartigen Tumor in seinem Hirn, Glioblastom. Lebenserwartung? Monate, manche überleben länger. 13.3.2010, 11 Uhr: „Gib mir ein Jahr, Herrgott, an den ich nicht glaube, und ich werde fertig mit allem. (geweint)“. Die Ärzte gaben ihm 17 Monate. Zwölf sind bereits rum.

Nachwachsender Tumor

Im September erschien Herrndorfs Jugendroman „Tschick“. Foto: privat
Im September erschien Herrndorfs Jugendroman „Tschick“. Foto: privat © WP | WP

Wolfgang Herrndorf lebt. Noch. Damals, kurz vor seiner Einlieferung in die „Psychiatrische- u. Nervenklinik“ hatte man dem 45-Jährigen schon einen Tumor aus dem Hirn entfernt. Doch der wächst nach, ist zu 100 Prozent tödlich. Das Wissen um die kurze, ungewisse Zeit, die ihm noch bleiben sollte, ließ ihn bei seinen Freunden randalieren, zusammenbrechen. Bevor er sich einliefern ließ, zog er sich noch zuhause um, Pinguinkostüm. Obwohl er fürchtete, man würde diesen Witz nicht verstehen.



Dass er nicht psychisch krank war, erkannten die Ärzte schnell. Auch die aufgekratzten Zeilen zu Beginn des Tagebuchs beruhigen sich schnell, werden wieder zu einem nüchternen Stil, der Herrndorfs bisherigen Romanen ähnelt. Mit „In Plüschgewittern“ und den Erzählungen „Diesseits des Van-Allen-Gürtels“ hatte es der Schriftsteller, der zuvor Illustrationen für die Titanic und Buchcover geliefert hatte, zu einem anständigen Ansehen im deutschen Literaturbetrieb gebracht.

Wissen um Sehnsucht

Mit dem im September erschienenen Jugendroman „Tschick“, geschrieben und montiert in wenigen Montagen aus bereits vorhandenen Ideen unter dem Einfluss des Tumors, gelang ihm, wovon er immer geträumt hatte: Er stand hoch in den Bestsellerlisten, steht auf der Shortlist der Leipziger Buchmesse. „Ich schreibe auch schnell, ungefähr dreimal so schnell wie sonst und zehnmal so viel“, notiert er im ersten Tagebucheintrag. Und, das sei der Ehrlichkeit halber erwähnt, nicht besser oder schlechter als zuvor.

Verlorenheit im Jetzt

Doch hat sein Jugendroman über die Achtklässler Maik und Tschick, die im geklauten Lada auf eine Sommer-Irrfahrt durch Ostdeutschland gehen, einen Nerv getroffen. Weil er so schonungslos damit umgeht, wie wenig diese Jungs von manchen Dingen im Leben verstehen. Und wie viel sie doch schon vom Leben wissen – besonders von der Sehnsucht nach Freiheit und Vertrauen. Irgendwann begegnen sie auf einer Müllkippe einem Mädchen, Isa. Was für Maik nicht nur zur ersten ernsthaft erotisch gefärbten Begegnung seines Lebens führt. Sondern auf einem Berggipfel, wo sie über 100 Jahre alte Baumschnitzereien entdecken, auch zur ersten ernsthaften Auseinandersetzung mit dem Tod. „Und während wir uns sonnten, uns unterhielten, und Tschick beim Schnitzen zugucken, musste ich die ganze Zeit darüber nachdenken, dass wir in hundert Jahren alle tot waren. So wie Anselm Wail tot war.“ Also eben jener Mann, der 1903 als erster seinen Namen in den Baum ritzte. Das hat ein wenig von der Verlorenheit des „Fängers im Roggen“, ein wenig von Tom Sawyer. Und wurzelt doch im Hier und Jetzt.

Neuer Roman in Arbeit