Essen. Wenn Christoph Wilmer von der Zeche Carl aus durch Altenessen führt, offenbaren sich überraschende architektonische gesellschaftliche Kontraste.

Altenessen ist gewiss nicht der allererste Ort, an den man denkt, wenn man eine historische Führung im Ruhrgebiet erleben möchte. Aber darin liegt vielleicht der erste Denkfehler, denn am Beispiel von Altenessen lässt sich unglaublich viel über die Bergbau-Geschichte und die Industrialisierung des Ruhrgebiets lernen. Besonders wenn man von Christoph Wilmer begleitet wird, der diesen Stadtteil so gut kennt wie kaum ein Zweiter. „Hier gibt es kein großes Angebot an Führungen, aber Altenessen ist mein Heimatstadtteil. Und in Altenessen kann man viel sehen“, sagt der Historiker, der hier geboren ist und einen seiner beiden Wohnsitze im alten Zechensiedlungshäuschen hat, das sein Opa nach dem Krieg von seinem Lohn „abgestottert“ hat. Der andere Wohnsitz liegt in der Eifel, aber Christoph Wilmer kehrt immer wieder gern von dort zurück. Besonders zur Zeche Carl.

„Die Zeche Carl steht nicht nur für sich selbst, sondern für ganz viel…“, sagt Wilmer. Als 1847 die erste Eisenbahnstrecke durchs Ruhrgebiet in Betrieb ging, war der Bahnhof Altenessen der erste auf Essener Stadtgebiet. „Das wurde finanziert von Kölner Kaufleuten – und die waren schlau. Die wussten: Wo die Eisenbahn ist, lohnt es sich, nach Kohle zu graben“, so der 63-Jährige. Es waren Gustav von Mevissen und Gustav Mallinckrodt, die die größten Grubenfelder kauften – und gleich mehrere Zechen bauten: Anna, Neu-Cöln in Bergeborbeck und 1856/57 Carl.

Die Zeche mit der besten Eisenbahnverbindung

Christoph Wilmer auf dem Gelände der Zeche Carl.
Christoph Wilmer auf dem Gelände der Zeche Carl. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Seitdem steht auf dem Gelände von Carl der Malakowturm. „Die Bauern, die hier lebten, müssen von diesen Gebäuden richtig beeindruckt gewesen sein, denn solche Gebäude gab’s vorher nicht. Innerhalb von wenigen Jahren kamen 250 Arbeiter auf die Zeche, die Gemeinde wurde mächtig durcheinandergewirbelt“, sagt Wilmer. Die Zeche Carl war die Zeche mit der besten Eisenbahnverbindung von allen, angebunden an alle drei damals existierenden Privatbahnen.

Wilmer kennt viele Details aus der Frühzeit des Bergbaus, er kann erklären, wie frische Luft in den Schacht gelangte und verbrauchte Luft herausgesogen, warum die Zeche mit einer Doppelförderung betrieben werden konnte und wie der Spitzname „Zeche Qual“ aufkam. Das hing mit der Waschkaue zusammen, die nur Wannenbäder hatte und erst später wenige Duschen, es war immer kalt und zugig.

„Ich bereite gerade ein Buch über die Zeche Carl vor, das im nächsten Mai erscheinen wird, da ist der Bergbau in Altenessen 50 Jahre beendet. Darin wird die Geschichte der Zeche Carl vor allem nach der Stilllegung aufbereitet“, erzählt Wilmer. Denn Kohle gefördert wird dort schon seit 1929 nicht mehr. Und nach 1977 hat sich die Zeche dank eines evangelischen Pfarrers, der einen Ort für seine Jugendarbeit suchte, und einiger anderer Mitstreiter aus dem Stadtteil einen guten Ruf als Kulturzentrum erworben, das auf eine unglaublich lange Liste prominenter Musiker und Kleinkünstler zurückblicken kann.

Wo früher der „Stauder-Berg“ war

Besucherinnen im Kaiserpark in Altenessen.
Besucherinnen im Kaiserpark in Altenessen. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Von der Zeche Carl aus führt Christoph Wilmer auf einem kleinen Pfad in den Stadtteil, der wie so viele innerhalb von 65 Jahren dank der Industrialisierung explodierte: „Altenessen hatte um 1850 nur 1000 Einwohner. Und bei der Eingemeindung nach Essen 1915 waren es über 45.000“, sagt er.

Er kann genau erklären, wo einst die Bahngleise den Stadtteil durchschnitten haben und führt an die etwas kuriose Stelle, wo noch zwei verwaiste Brückenpfeiler darauf verweisen, dass hier einst der „Stauder-Berg“, eine Autobahnrampe über die Gleise, entlangführte.

Sobald man sich ein bisschen von dort entfernt und Richtung Kaiserpark geht, stößt man auf interessante architektonische Kontraste. Denn als 1897 zum 100. Geburtstag Kaiser Wilhelms I. der Park eröffnet wurde, war das mit einer Bedingung verbunden: Entlang des Parks musste eine Bebauung im wilhelminischen Stil entstehen, die heute in hübschem Kontrast zu den Bergmannshäuschen aus der Weimarer Zeit steht. Wuchtige Villen einerseits, andererseits kleine, im stets gleichen Stil errichtete Siedlungshäuschen, die heute so umgebaut sind, dass man nur erahnen kann, dass sie baulich identisch sind.

Schlagwetter-Expolsion von 1942

Wilhelminische Villen von 1909 mitten im Stadtteil.
Wilhelminische Villen von 1909 mitten im Stadtteil. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Ein wachsender Stadtteil brauchte freilich auch eine ordentliche Bildungsstätte, so dass man 1905 mit dem Bau des Realgymnasiums begann, das 1908 fertiggestellt wurde und heute als Leibniz-Gymnasium firmiert. Man brauchte ein „Flaggschiff der Bildung“, berichtet Wilmer. Wobei damals von dieser technisch ausgerichtete Schule fast nur Kinder der Reichen profitierten.

Bevor es zurückgeht zur Zeche Carl, macht Wilmer Station auf dem Nordfriedhof, der ein trauriges Stück der Bergbaugeschichte offenbart: 1942 starben bei einer Schlagwetter-Explosion auf der Schachtanlage Fritz-Heinrich 45 Bergleute. Sie liegen hier – und über ihnen wachte die bronzene Statue eines Bergmanns. 2021 wurde er wohl von Metalldieben entwendet. Doch mit etwas Glück wird die RAG, deren Eigentum das Denkmal war, für Ersatz sorgen in diesem Stadtteil, in dem der Bergbau bis heute so präsent ist.

Christoph Wilmer führt seine Spaziergänge auf Anfrage für Gruppen durch: 0201 – 32 44 16 oder wilmer@himmerod7verlag.de