Essen. In den 80ern schrieben „Tears For Fears“ große Pop-Hits. Jetzt ist das Duo zurück mit „The Tipping Point“, seinem stärksten Album seit 30 Jahren.
Roland Orzabal und Curt Smith, zwei in Ehren ergraute 60-Jährige aus dem englischen Bath, veröffentlichen nach 18 Jahren und einer Karriere voller Triumphe und Tragik, mal wieder ein neues Album. „The Tipping Point“ heißt das Werk, und es ist von einer mitreißend-melodischen Popqualität, die man dem Duo nicht mehr unbedingt zugetraut hätte. Roland Orzabal, der sich optisch mit dem üppigen Gesichtsgrauhaar allmählich dem Zauberer Gandalf aus dem „Herr der Ringe“ annähert, kommt im Zoom-Gespräch direkt zum Punkt. „Wenn Curt und ich nicht an einem Strang ziehen, ist es kein schöner Zustand, ein Teil von Tears For Fears zu sein, es ist sogar ein echter Alptraum.“
Die zwei sind komplizierte Kerle. Jeder mit einem starken Willen ausgestattet, beide nur bedingt kompromissbereit, was in einer gleichberechtigten musikalischen Beziehung freilich von Vorteil ist. Zu Beginn der Neunzigerjahre trennten sich Smith und Orzabal auch mal für längere Zeit komplett, doch sie fanden auch ein ums andere Mal wieder zurück auf den gemeinsamen Pfad. „Denn wenn wir uns verstehen, wird alles schlagartig zu einem großen Genuss.“
Smith ging nach Los Angeles, Orzabal blieb in England
Nach den erfolgreichen 1980ern war das Duo lange weg. Smith machte sich mit wenig durchschlagendem Erfolg solo selbstständig und siedelte nach Los Angeles über, wo er bis heute lebt. Orzabal blieb in England und machte als Tears For Fears alleine weiter. Aber erst 2004 brachten sie – motiviert durch Gary Jules’ erfolgreiche Coverversion von „Mad World“ für den Film „Donnie Darko“ – mit „Everybody Loves A Happy Ending“ ein weiteres gemeinsames Album raus. Ein großer Erfolg wurde es nicht, trotzdem blieben die beiden zusammen, verdienten Geld mit Tourneen.
Schließlich rappelten sich Smith und Orzabal auf und begannen, neue Songs zu schreiben – und landeten in einer Sackgasse. Auf Drängen des Managements trafen sie sich „mit diversen Songschreibern“, die auf den schnellen Erfolg aus waren: „Es war ein etwas verzweifelter Versuch, uns beide, während wir traten und schrien, in die moderne Welt zu verpflanzen.“ Curt Smith verlor die Lust und zog sich wieder zurück, während sich in Orzabals Privatleben ein Drama abspielte. Um 2014 herum wurde seine Frau Caroline, mir der er seit Teenagerzeiten zusammen war und Kinder hat, zum Pflegefall. „Sie litt an einer Vielzahl von psychischen Erkrankungen, darunter Demenz, sie war zudem Alkoholikerin und brachte sich, hart gesagt, langsam vor meinen Augen um. In den letzten Jahren wurde ich ihr Pfleger, und es kristallisierte sich heraus, dass sie zudem an einer Leberzirrhose litt. 2017 starb sie.“
Einer guten Sache auf der Spur
Orzabal selbst erkrankte nun körperlich wie seelisch. Und erst Anfang 2020 beschlossen die zwei, einen weiteren Anlauf zu nehmen. „Curt und ich setzten uns in sein Haus in Los Angeles, nur mit akustischen Gitarren und blendeten all die Erwartungen und das Drumherum aus. Aus dieser großen neuen Freiheit heraus kam der Song ,No Small Thing’. Schnell merkten wir, dass wir einer guten Sache auf der Spur waren.“ Zügig schrieben sie weitere Stücke wie den sehr dynamischen und fast schon überwältigenden Titelsong, das hymnische „Master Plan“, das nah am Gospel gebaute „Rivers Of Mercy“ oder das gesellschaftspolitische Anti-Macho-Lied „Break The Man“.
Und jetzt auf einmal stehen sie da mit ihrem stärksten Album seit über 30 Jahren. „Tears For Fears sind immer dann am besten“, so Roland Orzabal, „wenn wir bis in die stinkenden Ecken unserer Psychen und Seelen vordringen und mit relevanten Songs aus diesen Ecken wieder hervorkriechen.“ Ironischerweise komme ihnen der Trend zum Streaming entgegen: „Wir erleben eine Renaissance, unsere klassischen Songs, die 30, 40 Jahre alt sind, werden von vielen Kids zum ersten Mal entdeckt. Und es hilft natürlich, wenn junge Leute Coverversionen machen, so wie Lorde mit ,Everybody Wants To Rule The World’“.
Im besten Frührentneralter sind Tears For Fears also plötzlich wieder hip. „Wieder?“ Roland Orzabals Lachen füllt den ganzen Bildschirm aus. „Ich würde eher sagen: Zum ersten Mal.“