Bochum. .

Günter Grass hat seiner Erkältung zwei umjubelte Auftritte abgetrotzt, erst im Bochumer Schauspielhaus, dann in der Duisburger Gebläsehalle. „Mit Disziplin“, lächelt der 81-jährige Literaturnobelpreisträger, „kann man auch über einen Husten hinwegreden“. Jens Dirksen sprach mit ihm über die deutsche Sprache, über Reformen, Revolutionen und „Stuttgart 21“.

Die jüngsten Debatten waren nicht von Ihrem neuen Buch bestimmt, sondern von Thilo Sarrazins. Sind Sie froh, dass ein Buch noch so viel bewegt – oder ärgert sie Sarrazin?

Es ist das falsche Buch zur Situation in der Bundesrepublik. Selbst wenn darin einige richtige, aber gar nicht neue Überlegungen sind, warum es mit der Integration nicht klappt – das wird alles entwertet von diesen biologistischen Behauptungen, vom Vulgärdarwinismus einiger Thesen.

Welches wäre denn das richtige Buch zur Zeit?

Das von Peer Steinbrück, das setzt sich substanzvoll und in deutlicher Sprache damit auseinander, wie es zu dieser Abkoppelung der Finanzbranche von der Realwirtschaft kam, die in die große Krise geführt hat.

Es war allerdings die SPD, die den Finanzmarkt so weit liberalisiert hat, dass am Ende die große Krise möglich wurde.

Das war ein großer Fehler der Regierung Schröder, allerdings waren ja auch die Grünen beteiligt. Jedenfalls ist es der SPD nicht honoriert worden, dass sie mit der Kurzarbeit und allerlei anderen Maßnahmen dafür gesorgt hat, die Wirkungen der Finanzkrise abzuschwächen. Und nun haben wir zum ersten Mal seit Jahrzehnten weniger als drei Millionen Erwerbslose. Aber: Die Zahl der Leiharbeiter steigt nach wie vor, und solange es da nicht zu einer Regelung kommt, ist es eine schiefe Erfolgsbilanz.

Sie setzen weiter auf Reformen, nicht auf Revolutionen.

Dafür gibt es ja heute gar keine Basis! An der Französischen Revolution sieht man, dass sie ausgebrochen ist, weil man notwendige Reformen zu lange zurückgehalten hat. Außerdem hat die Geschichte bewiesen, dass die Entwicklung mit Revolutionen einen großen Sprung macht – aber in kürzester Zeit geht es dann wieder rückwärts, zur Konterrevolution.

Es gab auch eine erfolgreiche Revolution in Deutschland.

Aber da ist auch sehr schnell etwas schief gelaufen. Wenn ich mir nur ansehe, mit welcher Frechheit man den Nationalfeiertag ausgerechnet auf den Tag des Anschlusses der DDR-Länder an die Bundesrepublik gelegt hat! Das hat doch nicht Helmut Kohl herbeigeführt, das waren die Menschen auf der Straße!

Der richtige Tag wäre ...?

Vielleicht der Tag der ersten Montagsdemonstration in Leipzig.

Im Moment wird mehr in Stuttgart demonstriert...

... und ich bin sehr froh darüber. Eine Demokratie kann sich nur entwickeln, wenn die Bevölkerung, also der eigentliche Souverän im Land, immer wieder das Wort ergreift. Es kann nicht sein, dass mündige Bürger nur alle vier Jahre ihre Stimme abgeben und dazwischen schweigen. Sie müssen sich auch während der laufenden Legislaturperiode einmischen und auf die Parteien einwirken, die Partei ihrer Wahl ja manchmal auch an die eigenen Versprechen erinnern.

Wir reden in diesen Tagen viel über Integration, was halten Sie von sprachlichen Einwanderern? Die Brüder Grimm haben Fremdwörter mit spitzen Fingern angefasst. Heute ärgern sich viele Menschen über Anglizismen.

Wilhelm Grimm hat in einer seiner Reden gesagt, dass wir eine Sprachpolizei, wie sie in Frankreich für die Reinheit der Sprache sorgt, nicht nötig haben. Unsere Sprache ist stark genug, sich stets zu erneuern und das Übermaß an Fremd-Einflüssen wieder auszuschwitzen. Viel schlimmer ist ja die Verarmung des Wortschatzes. Und das Absterben des Genetivs. Und die mangelnde Beherrschung des Konjunktivs.

Die Bücher, die Sie schreiben, nennen Sie immer seltener einen Roman.

Ja, wenn dieser Gattungsbegriff nicht zutrifft. Sehen Sie, in meiner Autobiografie „Beim Häuten der Zwiebel“ ist eben auch viel Fiktives.