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Marcel Reich-Ranicki wird am Mittwoch 90 Jahre alt. Der Literaturpapst blickt zurück auf eine einzigartige Karriere als Kritiker und Enfant terrible: mit seiner Neigung, Bücher zu verdammen und in den Himmel zu loben.

Man kann nicht jedes Buch dieser Welt lesen, aber das ist noch lange kein Grund es nicht wenigstens zu versuchen – vielleicht war es so ein elftes Gebot, das Marcel Reich-Ranicki den Vornamen Literaturpapst eingebracht hat. Oder seine Neigung, Bücher zu verdammen und in den Himmel zu loben, seine Liebe zur Kanonisierung und anderem Getöse. Den Gestus der Unfehlbarkeit, mit dem der Literaturrichter Reich-Ranicki Urteile zelebrierte, teilt er mit anderen Päpsten. Aber er ist kein Unfehlbarkeitsdogmatiker: Der Widerruf seiner beinahe schon historischen Fehleinschätzung der „Blechtrommel“ von Grass kam drei Jahre nach dem Verriss.

Für den Atheisten Reich-Ranicki ist Literatur, ist Bildung eine Ersatzreligion. Und sie hat ihn weit getragen. Aus dem polnischen Fabrikantensohn, der mit neun Jahren nach Berlin übersiedelte und die deutschen Kultur aufsog, war 1938 ein Geächteter geworden, den die Nazis nicht studieren ließen. Weil er Jude war. An die Literatur geklammert, überlebte er das Warschauer Ghetto, wo er seine Frau Tosia kennenlernte, mit der er nun 68 Jahre verheiratet ist.

Reich-Ranckis Eltern aber starben in den Gaskammern von Treblinka. Und nicht einmal Bücher beantworten die eine Frage, die den Überlebenden umtreiben sollte – „Warum wurden wir gerettet?“

Ausgeprägter Mangel an Geduld und Nachsicht

Sein ausgeprägter Mangel an Geduld und Nachsicht dürfte mehr ein Echo solcher Erfahrungen sein denn eine bloße Laune. Den heutigen 90. Geburtstag will Reich-Ranicki jedenfalls mehr überstehen als feiern: „Ich weiß nicht, wer kommt“, fertigte er an diesem Sonntag in seiner „Frankfurter Allgemeinen“ eine Interviewerin ab und ließ sie durch exzessive Antwortverweigerung wie eine Praktikantin aussehen.

Schließlich war er mal der mächtigste Literaturkritiker der Bundesrepublik. Zunächst schrieb er bis 1973 für die „Zeit“, bevor er das Literaturressort der FAZ übernahm. Dort wurde MRR einer, der Autoren „machte“. Die dankbare Ulla Hahn etwa, Jahrgang 1946, widmete ihm ein Buch mit den Worten „Für den, der mich am 19. Juli 1979 in Wien zur Welt brachte, seither großzieht.“ Er dirigierte das Bachmann-Wettlesen in Klagenfurt, er knickte Autorenkarrieren oder verlängerte sie. Streitbar, verletzend, mitunter ge­schützt vom Nimbus des Holocaust-Überlebenden, ein Enfant terrible. Und zutiefst durchdrungen von der Mission eines Kunstrichters, der von der Literatur fast so begeistert ist wie von sich selbst.

Dass er sich so wenig wie kein zweiter seines Faches scheut, in Gut und Schlecht zu unterteilen, beruht nicht zuletzt auf einem eher schmalspurigem Begriff von Literatur, der im Grunde genommen bei Thomas Mann und Brecht stehengeblieben ist. Komplexe, exzentrische Literatur blieb ihm stets fremd. Dass er im Zweifel lieber dem Leser gerecht wird als einem Roman oder seinem Autor, kam seiner Popularität stets entgegen.

So begann kurz vor dem Ende der alten Bundesrepublik, als Reich-Ranicki aus der FAZ-Redaktion ausschied, seine zweite Karriere: Im „Literarischen Quartett“ des ZDF spielte er seine Stärken vollends aus, wieder „machte“ er Autoren wie Harold Brodkey oder Javier Marias, diesmal vor der Kamera. In der Literatur-Talkshow mit dem meinungselastischen Kritiker-Freund Hellmuth Karasek und der intellektuell überlegenen Sigrid Löffler wurde Reich-Ranicki zur Fernsehfigur par excellence. Die überschaubare Zahl seiner Argumente und Kritierien ließ ihn berechenbar werden, aber er kompensierte das mit dem Reden über Erotik, mit Schlagfertigkeit und emotionalen Eruptionen, auf die das Publikum im Laufe der beinahe 13 Jahre immer mehr hinfieberte. Die Bücher wurden immer unwichtiger. Und solange sich Reich-Ranicki wie bei seiner polternden Ablehnung des Deutschen Fernsehpreises 2008 über die Trivialisierung des Fernsehens beklagt, kommt gar nicht erst die Frage auf, ob er nicht das Reden über Literatur trivialisiert hat.

Frankfurter Anthologie

Allerdings hat er, und das ist vielleicht sogar wichtiger als sein Kanon oder seine Autobiografie „Mein Leben“, die 1999 zum Bestseller wurde, das Lesen, das Verstehen von Gedichten popularisiert. In seiner überaus verdienstvollen „Frankfurter Anthologie“ erschließen gute Autoren gute Gedichte in guten Kommentaren. Denn man kann nicht jedes Gedicht, das man liest, verstehen. Aber man kann es wenigstens versuchen.