Mülheim. .

„Stücke“ 2010 - Mülheims Wettbewerb für Gegenwartsdramatik eröffnet mit Schimmelpfennigs „Der goldene Drache“. Nit diesem Stück gleitet man bruchlos durch Wahrnehmungsebenen, wechselt von der Parabel in die brutale Realität der Gegenwart.

Eines der prägenden Merkmale in den Stücken des Theaterautors Roland Schimmelpfennig ist das Moment des unmerklichen Gleitens. In „Hier und Jetzt“, das 2009 beim „stücke“-Wettbewerb deutschsprachiger Dramatik in Mülheim gezeigt wurde, gleitet man voller Staunen während einer einzigen Hochzeitsfeier quer durch die Jahreszeiten. In „Der goldene Drache“, mit dem am Wochenende der diesjährige Wettbewerb eröffnet wurde, gleitet man bruchlos durch Wahrnehmungsebenen, wechselt von der Parabel in die brutale Realität der Gegenwart. Und plötzlich wird da aus der Geschichte von der Ameise und der Grille der sehr wirklichkeitsnahe Fall einer Chinesin ohne Papiere, die von einem Lebensmittelhändler im Hinterzimmer als Sexsklavin für sich und zahlende Kundschaft gehalten wird.

Schimmelpfennig steht zum siebten Mal in der Konkurrenz von Mülheim. Und obwohl er mit seinen zwischen Traum und Alltag schwebenden Stücken noch nie wirklich enttäuscht hat, hat ihm bisher noch keine Jury den Preis zuerkannt. Den „Goldenen Drachen“ hat er diesmal selbst inszeniert, als Uraufführung im Akademietheater der Wiener Burg - ein Geflecht menschlicher Beziehungen und zwischenmenschlicher Kälte, das seinen Anfang in einem Thai-China-Vietnam-Schnellrestaurant nimmt. Hier leidet ein junger Asiate an entsetzlichen Zahnschmerzen, kann aber als „Illegaler“ nicht einfach so zum Zahnarzt gehen. Die Kollegen greifen darob zur Selbsthilfe, ziehen die kariöse Ruine mit einer Rohrzange und setzen damit eine Blutung in Gang, die schließlich zum Tode führt. Bildhafter kann man nicht ausdrücken, dass hier einer dem maroden Zustand der Welt auf den Zahn fühlen will.

Von Tod und Thai-Suppe

Im Laufe des Stücks begegnen wir einem einsamen alten Mann, der so gern in der Nähe seiner Enkelin wäre. Die aber ist schwanger und wird von ihrem Partner im Stich gelassen. Ein Mann um die 60 wird von seiner Frau einer neuen Liebe wegen verlassen. Später wird er sich sinnlos betrinken und die chinesische Zwangsprostituierte „kaputt machen“. Die wiederum war die Schwester des sich in der Restaurantküche zu Tode blutenden Chinesen, dessen Zahn eine Stewardess schließlich in ihrer Thai-Suppe entdeckt. Man kann sich nicht drücken vor den Schattenseiten dieser globalisierten Welt, irgendwann holen sie einen ein.

Fünf Schauspieler stemmen das Rollenpersonal auf beinahe nackter Bühne, wobei sie die geschlechtliche Zugehörigkeit vorsätzlich auf den Kopf stellen. Dass sie dabei zumeist an der Rampe stehen, über sich selbst gelegentlich in der dritten Person berichten und Regieanweisungen einfach mitsprechen sorgt schon dafür, dass sich hier kein düsterer Sozialreport Gelegenheit entfaltet, sondern dass eine fatalistische Komik sich entwickeln kann, der das Todesröcheln innewohnt. Dazu gehört auch die stoische Prägnanz, mit der die geschulte Restaurantbelegschaft uns nach und nach mit dem Gros der Speisekarte vertraut macht: Nummer 6, Thai-Suppe mit Hühnerfleisch, Kokosmilch, Thai-Ingwer, Tomaten, Champignons, Zitronengras und Zitrusblättern - scharf.

Die tote Chinesin träumt derweil in ihrem nassen Grab von einer Rückkehr in die Heimat quer durch die Meere der Welt, selbst wenn sie es nur noch als Skelett schaffen sollte. Eine starke, verzweifelte Utopie am Ende eines starken, verzweifelten Stücks. Rauschender Applaus.