Düsseldorf. .

Im 19. Jahrhundert war Johann Wilhelm Schirmer ein Star. Heute spricht kaum noch jemand von ihm und seiner beachtlichen Wirkung. Sechs rheinische Museen nehmen sich nun des großen Unbekannten an, der mit seinen haargenauen Naturstudien erfrischend neue Wege ging.

»In den einsamsten Nebenthälern« traf man ihn. Sonntag für Sonntag. »Auf schwindelnd überhängenden Felskuppen mit Bleistift und Studienbuch in emsiger Thätigkeit.« Eichen, Buchen, Blätter, Stämme, Felsen, Kiesel, Bäche, Strände – Johann Wilhelm Schirmer fixierte alles ganz genau, oft aus allernächster Nähe. Wie versessen, stundenlang auf seinem Feldstuhl sitzend. Der junge Maler hatte das Klappmöbel mit einem Schirm versehen und im Malkasten einen Stauraum eingerichtet für frische Studien, die er bald auch in Aquarell- und Ölfarben ausführte.

Zuerst kam für Schirmer immer die haarkleine Naturbeobachtung. Doch standen diese heute fortschrittlich, manchmal fast revolutionär anmutenden Blätter zur seiner Zeit, dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts, nicht für sich. Sie waren nur Vorarbeiten zum aus allen möglichen Einzelteilen zusammengesetzten und darin für heutige Augen wenig »modernen« Gemälde. Die Kombination aus Studie unter freiem Himmel und säuberlicher Komposition im Atelier blieb für Schirmer ein Leben lang bestimmend. Mit ihr wurde er ein Pionier der Landschaftsmalerei in der Düsseldorfer Schule. Früh zum Professor berufen, gab er seine Praxis weiter. Zuerst in Düsseldorf, später in Karlsruhe – an rund 300 Schüler, darunter so prominente wie Arnold Böcklin, Anselm Feuerbach oder Andreas Achenbach.

Vom Rheinland in die Welt

ohann Wilhelm Schirmer, „Blick über die Serpentara auf das hohe Saccotal und das Volskergebirge mit Paliano und Olevano“, 14. September 1839. (c) museum kunst palast, Düsseldorf, Gemäldesammlung, Sammlung der Kunstakademie Düsseldorf (NRW)
ohann Wilhelm Schirmer, „Blick über die Serpentara auf das hohe Saccotal und das Volskergebirge mit Paliano und Olevano“, 14. September 1839. (c) museum kunst palast, Düsseldorf, Gemäldesammlung, Sammlung der Kunstakademie Düsseldorf (NRW)

Werk und Wirkung sind also beachtlich. Trotzdem war bisher wenig zu sehen und zu hören von Schirmer. Vor acht Jahren rief die Kunsthalle Karlsruhe erstmals zur großen Wiederentdeckung und widmete sich in der zugehörigen Retrospektive vor allem dem Spätwerk. Sehr viel gründlicher geht nun die von sechs rheinischen Museen getragene Koproduktion »Johann Wilhelm Schirmer – Vom Rheinland in die Welt« die Sache an. In sieben Ausstellungen, mit allerlei Forschungen, Veranstaltungen und in einem gemeinsamen Katalog trägt das Sextett sein Wissen und neue Erkenntnisse zusammen, beleuchtet dabei alle möglichen Facetten des umfangreichen Œuvres.

In den Vordergrund tritt hier nun jene frühere, wohl auch spannendere Werkphase. Sie spielte sich hauptsächlich im Rheinland ab, wo Schirmer von 1825 bis 1855 an der Akademie lernte und lehrte. Unterbrochen von etlichen Arbeitsausflügen – zunächst in Düsseldorfs Umgebung, später dann nach Belgien, in den Schwarzwald und die Schweiz, die Normandie und Holland. Das Clemens-Sels-Museum in Neuss nimmt sich jene Studien vor, die Schirmer von seinen Reisen mitbrachte. Gegenüberstellungen mit Gemälden machen hier klar, wie er das unterwegs gesammelte Material daheim weiterverarbeitete.

Im Museum Kunst Palast dreht sich alles um Schirmers Blick auf den Süden

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Von DerWesten

Wegweisend für die Entwicklung des Malers wurde 1839 bis 1840 die Tour durch Italien – ein Mekka auch der Düsseldorfer Malerschule. Schirmer war entzückt von der Vegetation, von den Licht- und Farbenspielen, vom »bläulich silbrigen Duft der Ferne«. Im Düsseldorfer museum kunst palast dreht sich alles um seine Sicht auf den Süden. Hier machen vor allem erstaunlich freie Ölskizzen, Aquarelle und Zeichnungen aus den Bergen östlich von Rom Eindruck – sie wurden im Vorfeld der Schau eingehend untersucht. Auch das Rheinische Landesmuseum in Bonn hat Einzelwerke unter die Lupe genommen. Anhand von zwei Gemälden aus dem eigenen Bestand wird hier der Werkprozess aufgerollt: Von der Reise und Motivsuche über Studien bis zur Ausführung in Öl.

Schirmers Weltweitwirkung ist Thema in Jülich – dort verfolgt das Museum Zitadelle die Wege seiner Werke bis auf den US-Markt. Während die Städtische Galerie Villa Zanders in Bergisch Gladbach der Verbreitung seiner Kunst durch druckgrafische Vervielfältigung nachgeht und im Anschluss daran in Caspar Scheuren einen erfolgreichen Düsseldorfer Malerkollegen vorstellt, der ein Leben lang Schirmers großem Vorbild folgte. Königswinter schließlich führt vor, wie die Landschaften von Schirmer und den anderen Düsseldorfern bis heute unsere Wahrnehmung des »romantischen« Rheinlandes prägen.

Mit vereinten Kräften und Mitteln treiben alle zusammen die Forschung ein gutes Stück voran – und verraten mehr über Œuvre und Einfluss jenes bisher nur am Rande bemerkten Malers, der 1807 als Sohn eines Buchbinders in Jülich zur Welt kam und es immerhin bis zum Gründungsdirektor der Kunstakademie in Karlsruhe brachte. Eine Traumkarriere, die Schirmer sicher nicht bewältigt hätte, wäre ihm die extrem günstige Lage am Markt nicht zur Hilfe gekommen: Sein Aufstieg spielte sich zu einer Zeit ab, da in Deutschland der Absatz für Landschaftsgemälde geradezu explodierte. Die lange als minderwertig betrachtete Gattung erlebte einen echten Boom.

Akademie-Direktor Friedrich Wilhelm von Schadow soll das Talent schnell gewittert haben

Besser hätte es nicht kommen können für den Maler, der schon als Jüngling zeichnend in der Gegend um Jülich umhergestreift sein soll und, dieser Neigung folgend, nach der Handwerkslehre mit 17 Jahren das Studium an der Düsseldorfer Kunstakademie aufnehmen konnte. Direktor Friedrich Wilhelm von Schadow soll das Talent schnell gewittert haben und zog zum Vergleich einen namhaften Niederländer des 17. Jahrhunderts heran: »Er müsste sich schon sehr irren«, so Schadow, wenn der junge Schirmer nicht »dermaleinst sein Ruisdael werden würde.«

Weil der väterliche Direktor nach eigenem Bekunden nichts vom Landschaftsfach verstand, brachte er den Neuling mit dem etwa gleichaltrigen Carl Friedrich Lessing zusammen. Ein Volltreffer – aus der Freundschaft ging rasch der »Landschaftliche Componierverein« hervor, in dem sich alle zwei Wochen Kollegen zum gemeinschaftlichen Zeichnen und Malen in freier Natur trafen. Schirmer wurde in diesem Kreis als echtes As auf seinem Gebiet gehandelt und zum »Häuptling aller Landschafter« ernannt.

Der Trend zur Arbeit unter freiem Himmel, die Begeisterung der Jungen für Berge, Bäche, Blätter, Steine kam natürlich nicht von ungefähr. Bereits 1802 hatte der Maler Phillip Otto Runge bemerkt, wie sich in seinem Metier alles zur Landschaft drängte. Und der frühromantische Kollege Caspar David Friedrich verlieh der Beobachtung beeindruckenden Ausdruck in seinen mit symbolischer Bedeutung angefüllten Landschaftsszenarien.

Es sieht nach Aufbruch aus, nach einer Art neuem Naturalismus

Johann Wilhelm Schirmer, „Bei Tivoli“ – Blick auf die Apsis der Kirche La Carità“, 3. Juni 1840. (c) museum kunst palast, Düsseldorf, Gemäldesammlung, Sammlung der Kunstakademie Düsseldorf (NRW),.
Johann Wilhelm Schirmer, „Bei Tivoli“ – Blick auf die Apsis der Kirche La Carità“, 3. Juni 1840. (c) museum kunst palast, Düsseldorf, Gemäldesammlung, Sammlung der Kunstakademie Düsseldorf (NRW),.

Ein Ton, der laut mitschwingt in der »Burg bei Altenahr«, wo Schirmer 1828 die Natur mit romantischer Poesie zu adeln sucht. Ganz anders seine Landschaft »nach eigener Erfindung« aus demselben Jahr: »Deutscher Urwald«, eine Waldgegend mit verschwiegenem Tümpel zwischen Blumen und Gräsern. Dazu die gewaltige Eiche, an deren Fuß ein Jäger mit Hund rastet. Licht fällt auf wogendes Laub. Am blauen Himmel ein paar dicke Wolken, die sich vor das Gelb des Sonnenlichts schieben. Hier reicht Schirmer die Natur als Thema. Das Gemälde machte den gut Zwanzigjährigen praktisch über Nacht berühmt.

Es sieht nach Aufbruch aus, nach einer Art neuem Naturalismus. Zwar wird auch künftig eifrig komponiert, gemäß aller Regeln der Kunst zusammengefügt, doch hielten sich die Einzelteile immer ganz dicht an der Realität. Für Schirmer blieb die permanente Selbstüberprüfung, der tägliche Umgang mit dem Vorbild in der Natur zwingend. Anders wäre sein ungeheurer Eifer beim Zeichnen und Malen en plein air nicht zu erklären. Neben 600 Gemälden hinterließ er 1600 Studien, doch rechnet man mit einer Dunkelziffer, die weit höher liegt.

Ein Zeitgenosse zeigt den Maler 1844 fast karikierend bei der Arbeit im Atelier mit dem Pinsel in der Hand vor der Leinwand, umgeben von jeder Menge Zeichnungen und Studien, die ihm als Quellen dienen. Im Gemälde finden sie sich zuweilen in originellen Verbindungen wieder: Die »Berglandschaft im Charakter des Ahrtals« etwa bringt Felsen aus einem Tal bei Bingen, Schloss Bürresheim in der Eifel, Elemente des Ahrtals und Berge aus Italien zusammen.

Während sich die französischen Kollegen im berühmten Barbizon unter freiem Himmel vom akademischen Ideal verabschiedeten; während sie ihre Bilder der wahren Natur als vollgültige Werke entwickelten – machte sich Schirmer 1839 auf nach Italien und unterzog seine Kunst auf klassischem Boden einer gründlichen Revision. Neben der Natur wurden nun Vorbilder wie Claude Lorrain oder Nicolas Poussin mit ihren klassizistischen Landschaften wichtig und blieben es.

Die Franzosen schritten weiter in Richtung Moderne fort, bereiteten den Weg für die Befreiung der Farbe im Impressionismus. Den Düsseldorfer zog es dagegen zurück zur Tradition. Aus heutiger Sicht ein kunstgeschichtlicher Anachronismus, der sicher nicht unschuldig ist an Schirmers spärlichem Nachruhm.

Text: Stefanie Stadel

Erschienen in der K.WEST-Ausgabe Mai 2010